Die Weisheit der Steine / Gefrorene Zeit

Wort zum Tage
Die Weisheit der Steine / Gefrorene Zeit
13.10.2015 - 06:23
25.06.2015
Dietrich Heyde

Es ist merkwürdig mit uns Menschen. Wir schenken den Dingen umso größere Aufmerksamkeit, je seltener sie sind. Wenn aber etwas im Überfluss da ist – wie “Steine“ zum Beispiel – dann gehen wir gedankenlos darüber hinweg. Daran musste ich denken, als ich Urlaub auf Rügen machte und nahe der Steilküste bei Saßnitz am Ufer entlangging. Es war übersät von Steinen.

 

Ich weiß nicht, wie viele Steine ich in die Hand nahm, um ihre Farben und Formen zwischen Licht und Wasser auch mit der Haut zu erfassen. Am Ende jedenfalls behielt ich zwei, einen Feuerstein und einen Donnerkeil. Später las ich, der Feuerstein habe sich vor Jahrmillionen in der Kreide gebildet; und der Donnerkeil sei das versteinerte Schwanzteil von urweltlichen Tintenfischen.

„Gefrorene Zeit“[1] hat eine Dichterin die Steine einmal genannt. Sie sammeln, so sagt sie, „der Erdenzeiten Stille“[2]. Ihnen ist also die Kraft eigen, all das Vergangene, die Zeiten und Geschehnisse, aufzubewahren. Sie bergen das Geheimnis von Jahrmillionen, das Geheimnis der Erinnerung.

 

Ich hatte plötzlich das Gefühl: Angesichts dieser uralten Steine und all dessen, was sie in sich aufbewahren, wird die Weltgeschichte zu einem Atemzug. Und der Mensch mit seiner tiefsitzenden Neigung, seine Zeit und sein Heute zu überschätzen, wieder heilsam klein und bescheiden. Steine lehren uns die wahre Größenordnung. Steine lehren uns, recht betrachtet, Geduld und Gelassenheit. Also die Kraft, innezuhalten und Zeit zu haben.

Der Prophet Jeremia (31,21) empfahl schon vor zweitausendsechshundert Jahren: „Richte dir Wegzeichen auf, setze dir Steinmale!“

 

Und noch etwas ging mir auf, was offensichtlich zur Weisheit der Steine gehört:

Sie weisen uns hin auf unser kostbarstes Vermögen. Was das ist? Nein, nicht Geld oder Besitz, nicht Land oder Häuser, nicht dies und das, auch kein Wissen. Dein kostbarstes Vermögen ist dein Erinnerungsvermögen. Die Erinnerung, die Vergangenes speichert wie die Steine das auch tun. Ja mehr noch, die all das Vergangene vergegenwärtigt und für dich lebendig und fruchtbar macht. Denn Erinnerung ist Leben. Sie gibt deinem Tag Tiefe, Bedeutung und Gewicht.

 

Erinnere dich, um teilzuhaben an Gottes Wohltaten. So tat es schon der Psalmbeter – mit den Worten:

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ (Psalm 103,2)

 

[1] Nelly Sachs, Sternverdunkelung, edition suhrkamp 51, 1966, S.146

[2] Nelly Sachs, In den Wohnungen des Todes, a.a.O.  S.92

25.06.2015
Dietrich Heyde