Eine, die Gott verloren hat

Wort zum Tage
Eine, die Gott verloren hat
25.07.2015 - 06:23
23.06.2015
Pfarrer Rainer Stuhlmann

Hana, geboren 1927, war als Tochter eines orthodoxen Rabbiners in der streng religiösen Welt eines osteuropäischen Schtetl aufgewachsen. Sie hat ihr Judentum geliebt, Tora, Mischna und Talmud – und über alles Israels Gott und zugleich Gott aller Völker.

 

1942 muss die Fünfzehnjährige vor deutschen Soldaten fliehen. Unter der Führung ihres Rabbiners findet ihre Gruppe ein Versteck in einer Höhle. Als es dunkel geworden ist, fordert der Rabbiner sie auf,  im Vertrauen auf Gott die Höhle zu verlassen. Aber Hanas Angst war so groß, dass sie der Stimme ihres Rabbiners nicht folgen konnte. Sie schämte sich ihres mangelnden Gottvertrauens. Und dann hörten die wenigen, die mit ihr in der Höhle verharrten, wie die Flüchtenden von Gewehrsalven nieder gemäht wurden. Wo ist Israels Gott?

 

Das ist eine von vielen erschütternden Erfahrungen, die diese Überlebende der Shoa in Israel der jungen Generation erzählt. Hana entkommt den Häschern nicht. An der Rampe in Auschwitz erscheint das Mädchen als stark genug für das Arbeitslager. „Wir mussten hart arbeiten und doch quälte uns ständig ein schrecklicher Hunger. Eines Tages kündigten unsere Bewacher an, dass es Suppe mit Fleisch geben sollte. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Und dann diese große Enttäuschung! Ich konnte sie riechen. Es war Suppe aus Schweinefleisch. Zwischen Hunger und Gottes Gebot fühlte ich mich hin- und hergerissen. Ich beschloss, die Suppe zu löffeln und das Fleisch auszuspucken. Aber als ich es in meinem Munde spürte, war mein Hunger zu stark. Ich kaute das verbotene Fleisch, schluckte es herunter und erwartete, dass sich die Erde öffnen und mich verschlingen wird. Doch nichts geschah.“ Wo ist Israels Gott?

 

Am Ende hat sie alles verloren, ihre Eltern und Geschwister, ihre Freundinnen und ihre Heimat und… Nach einer längeren Pause, in der sie zu überlegen scheint, ob sie es aussprechen soll, fügt sie hinzu: „… und ich habe Gott verloren“. Das war nicht der leichtfüßige Tonfall eines naiv triumphierenden Atheismus, wie er so schnell über die Lippen meiner leidverschonten besserwissenden Zeitgenossen geht. Es war ein Verlust, der sie getroffen hatte wie der Verlust ihrer Eltern. Und doch hatte sie siebzig Jahre mit dem Verlust zu leben gelernt und Gott nicht mehr vermisst.

 

„Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf“, heißt es in der Bibel (1. Samuel 2,6). „…und Israels Gott macht lebendig und führt wieder herauf“? Manchmal ist das noch kein Erfahrungssatz, sondern trotz Hölle und Tod ein Hoffnungssatz. Ich bin gewiss, dass Israels Gott niemanden verloren gibt. Auch die nicht, die Gott verloren haben.

23.06.2015
Pfarrer Rainer Stuhlmann