Gotteserfahrung am Morgen

Wort zum Tage
Gotteserfahrung am Morgen
20.01.2017 - 06:23
16.01.2017
Pastor Diederich Lüken

Auf Wolfgang Amadeus Mozart trifft das oft strapazierte Wort vom Ausnahmemusiker ohne Zweifel zu. Er war auch in manch anderer Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Bemerkenswert sind zum Beispiel auch seine Briefe, vor allem der letzte, den er seinem alten Vater schrieb: „Ich lege mich nie zu bette ohne zu bedenken, dass ich vielleicht (so Jung als ich bin) den andern Tag nicht mehr seyn werde – und es wird doch kein Mensch von allen die mich kennen sagn können dass ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre – und für diese glückseeligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer“. Manchmal denke ich: Es ist erstaunlich, dass die meisten Menschen sich mit solchen Gedanken nicht abgeben, sondern sich zu Bett begeben in der festen Gewissheit, dass sie am Morgen auch wieder erwachen werden.

 

Aber so ganz sicher ist das nun doch nicht. Es ist selten, aber es ist vorgekommen, dass jemand morgens für immer liegengeblieben ist, der das am Abend vorher nicht gedacht hat. Ausgerechnet in einem Wiegenlied, das Eltern ihren Kindern und Großmütter ihren Enkelkindern gern vorsingen, findet sich in dieser Hinsicht eine gewisse Skepsis. „Guten Abend, gut Nacht“, beginnt das Lied, von Johannes Brahms vertont, und einige Verse weiter heißt es: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Der Text besteht aus einem Volkslied, von Clemens Brentano und Achim von Arnim in ihrer Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ herausgegeben. Das Wecken am Morgen hängt danach davon ab, dass Gott das auch will. Da schwingt die leise Furcht mit, er könne es ja auch einmal nicht wollen und das Kind werde einmal nicht geweckt. Wahrscheinlich schlägt sich hier die Erfahrung der hohen Kindersterblichkeit früherer Jahrhunderte nieder. Diese leise Skepsis hinderte Brahms allerdings nicht daran, den Text als Wiegenlied für ein neugeborenes Kind zu vertonen, und zwar, wie er selbst sagte, „zu allzeit fröhlichem Gebrauch“. Die Einsicht, dass das Erwachen doch nicht so ganz selbstverständlich ist, verhindert also auch bei Brahms, ähnlich wie bei Mozart, keineswegs die Fröhlichkeit. Man muss die Realitäten des Lebens nicht verdrängen, wenn das Erwachen von Freude und Dankbarkeit erfüllt sein soll. Im Gegenteil. Auch der Liederdichter Jochen Klepper hat gewusst, dass das Erwachen nicht selbstverständlich ist und hat es deshalb dem Wirken Gottes zugeschrieben: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr. Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor. Er spricht wie an dem Tage, da er die Welt erschuf, nun schweigen Angst und Plage, nichts gilt mehr als sein Ruf.“ So wird das morgendliche Erwachen für Klepper geradezu zu einer Gotteserfahrung.

16.01.2017
Pastor Diederich Lüken