Ich komme aus dem Staub

Wort zum Tage
Ich komme aus dem Staub
06.07.2016 - 06:23
04.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Nichts weiter als ein fremdes Land bereisen wollten wir. Ein Land, in dem unser Sohn sein Freies soziales Jahr verbringt. Doch überraschenderweise wird es eine Reise zu meinen eigenen Wurzeln. Das Fremde ist nicht so fremd wie gedacht. Eine Fahrradtour durch kambodschanische Dörfer. Natürlich, harmlos ist das keineswegs. Bei 36 Grad 42 km fahren! Am Anfang bin ich noch fit, voller Neugier auf die Landschaft. Wir fahren aus der Stadt hinaus durch wohlhabende Vororte, Häuser auf Stelzen mit traditioneller Holzschnitzerei an den Türen und Fenstern. Manche mit wunderschönen Bambusrollos gegen die Sonne geschützt. Bananenstauden, Palmen, Reisefelder. Grün, soweit das Auge reicht. Immer wieder halten wir an, bekommen Delikatessen serviert und junge Frauen erzählen, wie sie das alles herstellen: Fisch im Bambusblatt, mit Palmzucker gesüßter Reis im Bambusrohr aufgefüllt und auf Kohlen gegart. Man schmeckt ein Land natürlich auch auf der Zunge. Dann biegen wir ab auf Feldwege, kommen tiefer ins Hinterland. Treffen auf Familien, die auf engstem Raum zusammenleben und kaum das nötigste zum Überleben haben. Die Wege werden immer staubiger und holpriger. Und die Geschichten düsterer: natürlich bekommen hier vor allem die Söhne eine Schulbildung. Natürlich dürfen die Frauen das Haus nicht verlassen. Natürlich kocht hier die ältere Schwester unseres jungen Tourguides das Mittagessen, zu dem wir eingeladen werden. Das ist ihr ganzes Auskommen. Sie leben im Staub und dort, wo sie leben, sind die Menschen selbst das einzig Schöne.

 

Der Heimweg wird richtig schwer für mich. Mit letzter Kraft kommen wir in unserer Unterkunft an und aus mir bricht es heraus: aus diesem Staub komme auch ich. Aus einer staubigen Dorfstraße. Aus engen Verhältnissen. Ich erzähle wie ein Wasserfall so wie ich meinem Mann noch nie erzählt habe von meiner Herkunft. Tief verborgen war alles unter einer dicken Schicht aus Scham, die hier in der Fremde aufbricht. Ich komme aus dem Staub. Diesen Satz habe ich tagelang meditiert – und beweint. Ich habe die Anstrengung meiner Mutter gesehen, aus diesem Staub etwas Schönes zu machen, Blumen in die Vase, gründlich putzen. Und meine eigene Anstrengung, dem Staub zu entkommen, mehr Lebenschancen zu haben, als unsere Dorfstraße mir und uns Frauen bieten konnte. Doch dann hat sich das Blatt gewendet: Wir alle kommen ja aus dem Staub, biblisch gesprochen. „Ich komme aus dem Staub und zu Staub werde ich zurückkehren.“ Das ist mein Psalmvers geworden, mein Trostpflaster auch auf die Wunde der Sterblichkeit. Irdischer, erdiger macht er mich. Ich weiß, wo ich herkomme und wohin die Reise geht.

04.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen