Kairos

Wort zum Tage
Kairos
19.07.2016 - 06:23
18.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

Neulich ist er mir wieder entwischt. Der rechte Augenblick. Ich habe ihn verpasst.

Ich war im Bus unterwegs. Ein lauer Sommernachmittag. Der Bus war fast leer. Eine alte Frau, ein junges Mädchen, ein Touristenpärchen aus Japan, der Busfahrer und ich. Ich träume vor mich hin aus dem Fenster. Da reißt mich eine scharfe Stimme aus meiner unbeschwerten Sommerstimmung: „Was die sich einbilden. Ich geb` vielleicht was für `nen deutschen Obdachlosen. Aber doch nicht für `nen Kannakenpenner. Kommen hierher und greifen unsere Sozialleistungen ab. Was wir Deutsche uns hart erarbeitet haben.“

Ich drehe mich um. Das Mädchen – vielleicht so um die zwanzig – telefoniert mit dem Handy. Stecker im Ohr. Der Gesprächspartner bleibt unsichtbar, und ich bin nicht traurig drum. In mir steigt Wut auf und ballt sich in der Magengegend zu einem heißen Knoten. Ich spüre, es ist dran aufzustehen und hinzugehen. Sich diese Ausdrucksweise zu verbitten. Dagegen zu halten. Farbe zu bekennen. Ein anderer Teil will noch die leichte Sommerstimmung festhalten. Die einzigen Ausländer, die ich hier sehe, sind das japanische Pärchen, das Händchen haltend zu der keifenden Telefoniererin blickt. Sich wundert über deren Lautstärke, doch den Inhalt des Telefonats vermutlich nicht einmal erahnt. Wer würde mir zur Seite springen? Die beiden? Die alte Frau auf dem Versehrtensitz vor mir? Der Busfahrer, der mit sturem Blick sein Fahrzeug durch den Großstadtverkehr lenkt, als bekäme e von alledem nichts mit?

Was soll ich sagen: So reden sie hier nicht!? Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter geht mir durch den Kopf. Der eben nicht vom „Kannakenpenner“ gefaselt hat, bei dem Fremden, der da verletzt auf der Erde lag. Im Gegenteil: Ein Mensch wie ich, hat er sich gesagt. Und seine Barmherzigkeit nicht bloß aufgespart für sein eigenes, vermeintlich besseres Volk.

Noch ehe ich zu einer Entscheidung komme, steigt das Mädchen aus. Schimpft sichtbar laut weiter mit von Hass verzerrtem Gesicht und zieht unbehelligt ihres Weges.

Ich habe den rechten Augenblick, den Kairos verpasst. Darstellungen dieses griechischen Gottes zeigen ihn mit kahl rasiertem Hinterkopf. Und das nicht etwa weil er ein Nazi ist, sondern weil man den richtigen Moment beherzt ergreifen muss. Er lässt sich nicht mehr am Schopfe packen, wenn er erst einmal vorüber ist.

18.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen