Kreuze mit Weitblick

Wort zum Tage
Kreuze mit Weitblick
25.11.2016 - 06:23
23.11.2016
Pfarrer Dirck Ackermann

Ich blicke auf eine weite Steppenlandschaft. Russische Steppe. Flaches Land. Der Blick reicht in endlose Ferne. Nur ein paar Gruppen von jeweils drei Kreuzen sind zu sehen. Sie bilden das einzige Sichthindernis. Sie zeigen, wo wir sind. Ein Kriegsgräberfeld in der Nähe von Wolgograd. Hier liegen etwa 60.000 Tote. 60.000 von den Hundertausenden, die in der Schlacht um Stalingrad ihr Leben verloren haben. Im Winter 1942 / 43 fand dieses menschliche Desaster statt. Hier sehen wir Zeugnisse davon, auf der einen Seite russische Kriegsgräber, auf der anderen Seite die deutschen mit den Kreuzgruppen.

Doch die Kreuze, auf die ich jetzt blicke, sehen anders aus. Es sind zwei. Sie stehen schräg zueinander, als wollten sie sich einander zuwenden. Das eine ist in russisch-orthodoxer Form gestaltet. Das andere so, wie ich es aus meiner Kirche kenne. Doch diese Kreuze begrenzen nicht den Blick. Im Gegenteil: Sie sind Lücken in einem Mauerwerk, gleichsam Fenster in Kreuzform. Fenster in einer Kapelle, die zwischen den beiden Kriegsgräberfeldern liegt. Ein Ort der Begegnung und der Versöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern. Friedenskapelle wird sie genannt. Seit Jahren sind Menschen aus Denkendorf in Oberbayern, aus Potsdam, aus Moskau und aus Wolgograd dafür eingetreten, dass sie gebaut wird. In diesem Jahr ist es so weit, die Friedenskapelle wird eingeweiht.

Mit diesen beiden Kreuzen, die so anders sind. Sie geben den Blick frei in die unendliche Weite des Landes und in den strahlend blauen Himmel mit klarem Sonnenlicht.

Licht – Leben – Liebe. Diese Worte kommen mir bei diesem Blick in den Sinn. Es sind die gleichen Worte, die der Arzt und Pfarrer Kurt Reuber auf sein Madonnenbild Weihnachten 1942 für die Soldaten in Stalingrad geschrieben hatte. Die sogenannte Stalingrad-Madonna als Zeichen der Hoffnung.

Licht – Leben – Liebe. Diese elementare Botschaft erklingt für mich, als ich diese beiden Kreuze sehe. Sie geben den Blick frei auf das, was hinter den Mauern liegt, auf Leben und das Licht. Sie zeigen, dass Liebe die Mauern der Feindschaft durchbrechen Aussichten des Friedens eröffnen kann.

Gut, dass die Kapelle in dieser Zeit fertiggestellt wurde. Wo viele wieder Mauern und Zäune aufrichten wollen und es auch tun, wo der Blick sich oft verengt, brauchen wir Orte der weiten Blicke, die die Grenzen überwinden und Versöhnung stiften.

23.11.2016
Pfarrer Dirck Ackermann