Mysterien auf dem Hauptbahnhof

Wort zum Tage
Mysterien auf dem Hauptbahnhof
01.02.2017 - 06:23
30.01.2017
Pfarrer Hannes Langbein

„Die Mysterien finden auf dem Hauptbahnhof statt!“ – Manche werden den Satz kennen. – Er stammt von dem Künstler Joseph Beuys, der kurz vor seinem Tod gebeten wurde, einige für ihn zentrale Sätze für eine Postkartenedition auf eine Schiefertafel zu schreiben: „Die Mysterien finden auf dem Hauptbahnhof statt“ – der handgeschriebene Satz ist heute nicht rätselhafter als damals: Denn was haben die Geheimnisse des Glaubens, die wir sonst in der Kirche vermuten würden, im Alltagstrubel des Hauptbahnhofs zu suchen?

 

Joseph Beuys hat sich Zeit seines Lebens mit der Frage beschäftigt wie sich die zentralen Impulse des christlichen Glaubens in die Gegenwart übersetzen lassen: Lassen sich Kreuze heute eigentlich noch als Kreuze darstellen oder müssen sie nicht vielmehr in Aktionen der Nächstenliebe, in Performances, in Bewegungen übersetzt werden? – Und sind die Begegnungen und Prozesse zwischen Menschen, die sich auf dem Hauptbahnhof begegnen nicht genauso rätselhaft und faszinierend wie die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi im Gottesdienst?

 

„Die Mysterien finden auf dem Hauptbahnhof statt“ – das heißt für Joseph Beuys zum einen, dass wir es in allen zwischenmenschlichen Beziehungen mit geheimnisvollen Wandlungen, mit Prozessen der Begegnung und der Veränderung zu tun haben. Nicht nur vor dem Altar oder im stillen Kämmerlein finden die Geheimnisse des Glaubens statt, sondern mitten in der Öffentlichkeit des Hauptbahnhofs zum Beispiel – sei es durch einen flüchtigen Blick, durch eine Berührung im Vorübergehen oder in einem Gespräch auf dem Weg vom einen Bahnsteig zum anderen.

 

Für Protestanten sollten die Worte des Katholiken Joseph Beuys eigentlich nicht fremd klingen. Denn seit Martin Luther das „Priestertum aller Gläubigen“ verkündet hat, sind die Geheimnisse des Glaubens zu einem öffentlichen Gut, zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung geworden und können prinzipiell überall, auch auf dem Hauptbahnhof, stattfinden. So wie laut Joseph Beuys jeder Mensch ein Künstler sein kann, wenn er denn seine kreativen Potentiale verwirklicht, so kann laut Martin Luther jeder Gläubige ein Priester sein, wenn er denn sein Herz und seinen Verstand und sein Gewissen walten lässt.

 

Dafür braucht es nicht unbedingt ein Museum. Und dafür braucht es auch nicht unbedingt einen Kirchenraum. Es reicht auch der Hauptbahnhof, wo die rätselhafte Liebe Gottes am helllichten Tag stattfinden kann. „Die Mysterien finden auf dem Hauptbahnhof statt.“

30.01.2017
Pfarrer Hannes Langbein