Nachtigall und Lerche

Wort zum Tage
Nachtigall und Lerche
17.01.2017 - 06:23
15.01.2017
Pastor Diederich Lüken

Manche Nächte sind so erfüllt, mancher Schlaf ist so erquickend, mancher Traum so süß, dass man sehnlich wünscht, der Tagesanbruch sei noch fern. Doch der Laut eines Vogels dringt ans Ohr. Deutet er an, dass die Nacht zu Ende ist und der Tag anbricht? Es kommt darauf an, welcher Vogel vor der Morgendämmerung sein Lied anstimmt. Ist es noch die Nachtigall? Dann ist noch viel Zeit zum Träumen, Schlafen oder Kuscheln. Oder Ist es schon die Lerche? Dann ist der Traum zu Ende geträumt. Zeit zum Aufstehen, Zeit für das grelle Morgenlicht, Zeit für die Realitäten des Alltags. Diese Realitäten scheinen an manchen Tagen so hart, dass man liebend gerne noch ein Weilchen weiter schlummern möchte. Vor allem Romeo und Julia, die berühmten Liebenden aus Verona, haben allen Grund, den kommenden Tag zu fürchten. Deshalb seufzt Julia ihrem geliebten Romeo mit den Worten Shakespeares ins Ohr:

„Willst du schon gehen? Der Tag ist ja noch fern. Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche, / Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang; sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort. / Glaub, Lieber, mir: es war die Nachtigall.“

Romeo antwortet: „Die Lerche war´s, die Tagverkünderin“, und er muss sehen, dass er fortkommt von seiner Julia; denn die Verfolger sind ihm auf den Fersen.

Heute Morgen wäre es für jeden wohl ein Genuss, wenn er überhaupt von einer Vogelstimme geweckt würde, jetzt im Januar, ganz gleichgültig, ob sie einer Nachtigall oder einer Lerche gehörte. Früher war es das Scheppern eines Weckers, heute sind es die oft teuer bezahlten und gleichwohl dürftigen Klänge eines Handys, die das unwillkommene Zeichen zum Aufstehen geben. Aber die Furcht vor den Anforderungen des kommenden Tages ist für manch einen vergleichbar mit der des guten Romeo, und die Neigung, wie Julia den Kopf unter die Bettdecke zu stecken und den Tag zu ignorieren, wohl auch. Das mindert jedoch die Probleme des kommenden Tages nicht; im Gegenteil. Es gilt, mit Mut und Tapferkeit dem entgegenzugehen, was uns Sorgen macht. Vielleicht hilft dabei ein Gebet Dietrich Bonhoeffers: „In mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht; ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht; ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe; ich bin unruhig, aber bei dir ist der Friede; in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld; ich verstehe deine Wege nicht, aber du weißt den Weg für mich. Du hast mir viel Gutes erwiesen, lass mich nun auch das Schwere aus deiner Hand hinnehmen. Du wirst mir nicht mehr auflegen, als ich tragen kann. Du lässt deinen Kindern alle Dinge zum Besten dienen. Herr, was dieser Tag auch bringt, dein Name sei gelobt!“

15.01.2017
Pastor Diederich Lüken