Optische Täuschung

Wort zum Tage
Optische Täuschung
02.02.2017 - 06:23
01.02.2017
Pfarrer Hannes Langbein

Ist Ihnen in einer Kirche schon einmal schwindlig geworden? – Mir ist das passiert: Vor gar nicht allzu langer Zeit in der St. Jacobikirche in Göttingen. – Schon beim Betreten der Kirche kam ich ein wenig ins Schwanken. Denn auf den ersten Blick schienen die Säulen der hochgotischen Hallenkirche nicht gerade zu stehen: Die eine schien sich nach links zu neigen, die andere nach rechts. Die eine schien sich nach oben hin, die andere nach unten hin zu verjüngen...

Vorsichtshalber setzte ich mich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren – und beruhigte mich fürs Erste. Denn beim Blick in Richtung Altar zeigte sich, dass die Säulen des hochgestreckten Kirchenraums nicht wirklich schief standen und sich natürlich auch nicht wirklich verjüngten. Sie sahen nur so aus, weil sie von oben bis unten mit farbigen geometrischen Figuren bemalt waren: ein großflächiges Muster aus roten und weißen und blauen Romben schmückte die Säulen – so geschickt angeordnet, dass sie den arglosen Betrachter in eine überlebensgroße optische Täuschung aus angeschrägten Vertikalen hinein versetzten. Eine astreines optisches Verwirrspiel wie viele sie von Künstlern wie Piet Mondrian oder M. C. Escher kennen – nur eben nicht aus dem 20., sondern aus dem 15. Jahrhundert...

„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“, dachte ich mit Blick auf ein altes Wort aus dem Johannesevangelium. – Denn wann wird einem schon einmal die Täuschungsanfälligkeit unserer Sinne derart körperlich vor Augen geführt? – Im Johannesevangelium geht es um die Auferstehung Christi und die Frage, ob die Jünger ihren Augen trauen können, wenn sie den auferstandenen Christus, den sie kurz zuvor begraben hatten, lebendig vor sich sehen. Heute geht es vielleicht eher um die Frage, ob wir unseren Augen trauen dürfen, wenn wir uns täglich anhand von alten und neuen Bildmedien in der Welt orientieren: Was ist wirklich? Was ist zu schön, um wahr zu sein? Was ist real in der Bilderflut unserer Medienwelt? Wo ist die Perspektive, die uns den Blick wieder gerade rückt?

Wer einmal in der Göttinger Jakobikirche gewesen ist, der weiß was es heißt, visuell an der Nase herum geführt zu werden. Und der weiß auch, dass es auch in der Welt optischer Täuschungen Orte und Perspektiven gibt, die – wie der Blick in Richtung Altar in der Göttinger Jakobikirche – den Blick wieder gerade rücken können. Gut, wer noch nicht ganz schwindelfrei ist!

01.02.2017
Pfarrer Hannes Langbein