Schritt für Schritt nur Leiden

Wort zum Tage
Schritt für Schritt nur Leiden
30.03.2015 - 06:23
30.03.2015
Pfarrer Michael Becker

Er geht an mir vorbei, ist wohl um die sechzig Jahre alt, humpelt etwas und hat einen sehr dicken Bauch. Laufen fällt ihm schwer. Sein Gesicht verzerrt sich bei jedem Schritt, als habe er Schmerzen. Er sieht auf nichts als auf sich selbst. Mühsam setzt er einen Fuß vor den anderen. Seine Kleidung wirkt ärmlich, der dicke Pullover ist unten ausgefranst, die Hosen sind viel zu weit. Eine Frisur war einmal; geblieben ist ein Durcheinander auf dem Kopf. Ein Mann wie aus der Welt gefallen. Er geht und lebt und denkt nur in seiner Welt. Menschen eilen an ihm vorbei, müssen einen  Bogen machen, er selbst kann ihnen nicht ausweichen, ist eher im Weg.

 

Für manche ist immer Karwoche. Ich schaue dem Mann zu, bis mein Bus kommt. Als ich weg bin, geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Was meine Augen gesehen haben, haftet mir im Sinn. Dabei kenne ich ihn gar nicht, habe ihn gerade mal zwei Minuten gesehen. Ich weiß nichts von ihm, vielleicht aber auch alles. Ein Karwochenmensch ist er, wie aus der Welt gefallen. Schritt für Schritt nur Leiden. Das genügt schon, um Mitleid zu haben. Ich selber kann normal gehen, habe einen schönen Mantel und Geld für den Frisör. Der Mann aber hinkt immer noch weiter, sein Pullover bleibt schmuddelig und seine Haare brauchen Wasser. Sonst weiß ich nichts von ihm.

 

Ich fühle aber eine Menge. Wer aus der Welt gefallen ist, zeigt das nicht gerne. Irgendwann aber kann man es einfach nicht mehr verbergen. Dann ist man ganz unten angekommen. Wenn einem alles egal ist: Pullover, Schuhe, Haare. Wenn man sich nur noch sorgt, einen Fuß vor den anderen zu setzen und dabei bloß nicht hinzufallen. Dann hat man nur Augen für den nächsten Schritt. Ob und wie er an  Lage schuld ist, ist mir unwichtig. Er tut mir einfach leid. Der Karwochenmensch rechnet mit nichts mehr. Trotzdem bekommt er etwas. Und zwar mein Mitleiden. Das muss ich nicht machen, das ist einfach da. Ich sehe den Mann und denke, sogar Stunden später noch: Das hat kein Mensch verdient. Weil ich sonst nichts für ihn tun kann, denke ich an ihn und spüre mein Mitleid. Einfach so. Wie mit allen, die aus der Welt gefallen sind. Gott soll sie bloß nicht vergessen, all die Leidenden. Dafür ist er doch da.

30.03.2015
Pfarrer Michael Becker