Versuchungen: In Gedanken immer woanders

Wort zum Tage
Versuchungen: In Gedanken immer woanders
27.04.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert

Es kommt nur selten vor, dass ich beim Frühstücken ans Frühstück denke. Die Gedanken wandern, kaum werden sie wach, schon sonstwohin. Zu der Besprechung, die heute Nachmittag stattfinden soll. Wie wird das wieder langweilig! Und zum Zahnarzt, bei dem ich mich anmelden muss. Hoffentlich keine Zusatzkosten. Und warum ist es vor dem Fenster schon wieder so staubig? Das waren bestimmt die Handwerker von nebenan! Man hat doch nichts als Ärger. Und dann höre ich im Radio noch von Abgasskandalen und Briefkastenfirmen, vom Terroranschlag in Pakistan und dass Bayern München nur ganz knapp gesiegt hat. Alles in allem: Es geht bergab. Wieder mal grauenhaft, die Nachrichten.

 

Und so weiß ich schon am frühen Morgen innerhalb weniger Minuten: Mein Leben ist schwer und die Welt wird immer schlechter.

 

Nur dass ich einen guten Tee getrunken habe, ein verfeinertes Müsli gegessen, dass ich ganz in Frieden in meiner sonnigen Küche gesessen habe, davon habe ich nichts gemerkt. Oft geht es den ganzen Tag so weiter. In jeder freien Minute bin ich mit meinen Gedanken woanders, habe schon das Nächste und Übernächste im Kopf oder errege mich über etwas Vergangenes. Erst wenn mir spätabends im Bad der Deckel von der Zahnpastatube runterfällt und ich mich beim Bücken am Waschbecken stoße, bin ich mal für ein paar Minuten ganz im Hier und Jetzt. Warum hab ich auch nicht aufgepasst! Am Ende ist die Beule am Kopf, die ich mir durch meine Unachtsamkeit geholt habe, das einzig Schlimme, was mir am Tag passiert ist.

 

Es ist ja menschlich, es zeichnet uns als Menschen sogar aus, dass wir voraus- und zurückdenken können, planen, erinnern, in die Ferne schweifen. Und menschlich ist es auch, dass sich die Gedanken immer zuerst im Unangenehmen und Sorgenvollen verfangen. Nur wenn ich das überhaupt nicht mehr abstellen kann, verpasse ich doch im Grunde mein Leben. Denn das findet immer in der Gegenwart statt. In den vielen Augenblicken, die gar nicht so schlecht sind oder sogar schön.

 

Vielleicht sollte ich dieses ständige Hüpfen der Gedanken zum Nächsten und Fernsten, zum Schlechten und Sorgenvollen nicht einfach für normal und  richtig halten. Vielleicht hat das auch längst den Charakter einer Versuchung angenommen, der ich nur allzu leicht nachgebe. Ich bin dann weder richtig bei mir noch wirklich bei den andern. Ich bin einfach nur in einer Nebelwolke. Aus der jüdischen Weisheit stammt ein Satz, der mich in eine andere Richtung weist: „Beim jüngsten Gericht“, heißt es da, „wird der Mensch Rechenschaft ablegen müssen über all die guten Dinge, die er hätte genießen können und nicht genossen hat.“ Zum Beispiel das Frühstück.

11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert