Versuchungen: So tun, als ob die Andern gar nicht da sind

Wort zum Tage
Versuchungen: So tun, als ob die Andern gar nicht da sind
29.04.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert

„Gegebenenfalls freigegeben“ steht über den Sitzen im Großraumwagen. Wenn da niemand sitzt, darf man vermuten: Diese Plätze sind frei. So machen das auch zwei alte Damen, denen das Reisen mit der Bahn offenbar schwer fällt. Jedenfalls höre ich sie noch eine ganze Weile stöhnen und schimpfen, obwohl der Zug eigentlich pünktlich ist und gar nicht so voll. Aber eine Stunde später haben die beiden tatsächlich Pech. Da steht nämlich ein junger Mann vor ihnen und erklärt, er habe diese Plätze reserviert. Hinter ihm wartet still eine kleine Schar orientalisch wirkender Menschen. Für sie ist er offenbar verantwortlich. „Niemals!“ krähen die beiden Frauen. „Aber ja!“ sagt der Sozialarbeiter und zeigt seinen Reservierungszettel. Die Frauen blicken hoch: „Für Flüchtlinge! Das gibt’s doch nicht!“ „Nun machen Sie die Plätze mal frei!“ drängt der Sozialarbeiter. „Doch nicht für diese Proleten!“ schimpfen die beiden. Und kriegen es nun aber zurück: „Nazifrauen!“ zischt der junge Mann. Wie das nun weitergegangen wäre – das weiß ich nicht, denn jetzt geht jemand dazwischen: „Hört doch auf mit dem Quatsch!“

 

Zu meinem eigenen Erstaunen bin ich es, die das sagt, denn normalerweise gehöre ich eher zu den Verkrochenen. Diesmal war mein Ärger schneller. Und gleich bin ich mir peinlich. Das war ja nun keine intelligente Bemerkung. Ich wollte doch was ganz anderes sagen. Wollte sagen: Reservierte Plätze müssen Sie frei machen, ohne ausfällig zu zu werden. Erstens. Und zweitens: Man muss nicht gleich „Nazi“ rufen, wenn sich zwei alte Frauen schlecht benehmen. So hätte ich die Dinge richtig stellen sollen. Stattdessen kommt mir nur so ein blödes „Hört doch auf!“ über die Lippen. Aber sieh da: Es wirkt. Die beiden Frauen verstummen und suchen sich ein paar Reihen weiter neue Plätze.  Es ist, als ob sie bloß darauf gewartet hätten, dass jemand signalisiert: „Ich höre euch!“, um zur Vernunft zu kommen.

 

Doch gehört haben den Wortwechsel ja sicher noch mindestens dreißig andere Menschen im Waggon. So viele, die noch verkrochener waren als ich. Was ich auf eine Art verstehen kann, haben wir uns doch hierzulande sehr daran gewöhnt, aneinander vorbeizuhören und so zu tun, als wären die Andern  gar nicht da. Aber vielleicht ist es ja so, dass die Ausfälligkeit mancher Leute etwas mit der Verkrochenheit der Vielen zu tun hat. Dass Manche krakeelen, weil sie irgendwie gehört werden wollen. Diesmal kam es mir jedenfalls so vor. Und ich frage mich, ob aus der höflichen Distanz, die wir praktizieren, nicht schon längst soziale Gleichgültigkeit geworden ist. Und ob diese Gleichgültigkeit nicht eine ziemlich gefährliche Versuchung ist, die sich nicht immer noch breiter machen sollte.

11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert