Wohnen

Wort zum Tage
Wohnen
von Domprediger Michael Kösling, Berlin
02.09.2016 - 06:23
07.09.2016
Domprediger Michael Kösling

Ein Haus kaufen, vielleicht eine Wohnung? Die Gelegenheit ist günstig. Bei den Zinsen! In meinem Freundeskreis beschäftigen sich mittlerweile fast alle mit dem Thema. Sind wir richtig an dem Ort, an dem wir angekommen sind, von dem wir losgehen und an den wir wieder zurückkehren? Wohnen wir gut? Alles beginnt ja damit. Der Mensch soll die Erde bewohnen. Einen Flecken soll der Mensch finden. Nicht umherstreifen soll er, sondern einer Verheißung folgen und einen Ort finden. Die Bibel ist voll von solchen Geschichten. Das Versprechen vom Land, in dem Milch und Honig fließen, ist sprichwörtlich geworden. Von diesen Geschichten kommen wir her. Wir sind ein Teil dieser Geschichte von Sehnsucht und Erfüllung. Wohnen bedeutet auf einem festen, auffindbaren, bestimmten Stück Erde zu leben. Wohnen heißt, sichere Orte zu schaffen und Ruhe zu finden. Dreimal umziehen ist wie einmal abgebrannt, sagt man. Wir brauchen Orte, an denen wir bleiben können. Wo wir einander Sicherheit geben und so eigentlich erst Menschen werden. Nicht als Gejagte und auf der Flucht. Seit dem 7. August beherbergen wir im Berliner Dom 61 besondere Gäste. Sie stehen stumm beieinander im Glanz des Domes. In Lumpen gehüllt. Ihre zerschlissenen Kleider hängen ihnen vom spindeldürren Holzskelett. Jede der von der Mexikanerin Hellen Escobedo geschaffenen Figuren ist einmalig. Bei genauerem Hinsehen erzählt jede ihre eigene Geschichte. Doch Sie erzählen alle von Flucht und Vertreibung. Sie erzählen alle von einer Hoffnung und von Vertrauen. Diese Geschichten verleihen ihnen Würde. Sie erinnern mich daran, dass Fluchtgeschichten in die DNA meiner christlichen Existenz eingeschrieben sind. Genauso wie Geschichten der Bewahrung, des Schutzes und der Gastfreundlichkeit. Gott hat die Erde nicht als Chaos geschaffen, sondern hat sie so gemacht, dass sich Menschen darauf einrichten und wohnen können. Eine Möglichkeit, nach der Menschen noch heute rufen, wenn alles verloren und keine Zukunft da ist. Wohnen und Bleiben. Wir Menschen haben offenbar ein angeborenes Talent zur Hoffnung. Oder sind wir etwa satt? Weil wir selbst schon so gut wohnen? Knurrt uns noch der Magen vor Hunger nach Gerechtigkeit und Frieden für andere? Jeder einzelne, der da in zusammengeflickten Kleidern steht, ruft mir stumm zu, dass die Verheißung, die Erde zu bewohnen, sich längst nicht für alle erfüllt hat. Die Erfüllung steht für zu Viele noch aus. Wir Menschen sind noch nicht zur Menschheit geworden. Wir sind miteinander noch nicht angekommen. Wir sind noch unterwegs. Grundbucheintrag hin oder her.

 

Samstag, 3. September 2016

Sommersonnengnade

Irgendwann  geschieht es. Mittlerweile ahne ich schon, wann es bei mir so weit ist. Unverfügbar bleibt dieser Moment trotzdem, aber ich kann schon abschätzen, wann und wo es passiert. Die Rahmenbedingungen machen die Sache leichter. Beim letzten Mal war das so: Der Wind griff zart in die bunte Reihe nasser T-Shirts und Socken, Hosen und Hemden. Dahinter erstreckte sich tief unten das Tal. Und dahinter erhoben sich schroff die Berge. Einige mit einem Rest Schnee auf dem Gipfel oder auf den nördlichen Flanken. Über mir der blaue Himmel.  An diesem Kolkraben und ihr raok raok. Ansonsten: Stille. Eine schwere Stille, die alles langsam machte. Unterbrochen von leisen Zahlenreihen. Unsere Tochter übte Bruchrechnen. Und dann fiel alles zusammen. Zuerst pulsierte es wohlig irgendwo in der Magengegend. Dann kribbelte es in den Unterarmen. Die Beine wurden seltsam taub. Sie bekamen Gewicht. Mein Kopf fiel in den Nacken. Ich konnte nur noch staunen. Ich war in meinen Liegestuhl gedrückt und ahnte: Jetzt  geschieht es. Kein Gedanke. Keine Überlegung. Kein Einordnen all dessen. Alles war irgendwie schön. Alles war irgendwie richtig und machte Sinn. Keine Einsprüche. Kein Für und Wider. Die Zeit fiel in eins. Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft. Alles was ich sah, hatte ein Gesicht, was ich hörte, eine Stimme. Glück könnte man das nennen.  Oder einen seligen Moment. Es war Gnade. Ein Geschenk. Es war das tiefe Gefühl, da zu sein. Und ganz zu sein. Nicht infrage gestellt zu sein. Eingebunden zu sein in etwas, das über mich hinaus gültig war. Ich sage: Gott fand sich ein in diesem Augenblick. Haben Sie so etwas auch schon erlebt? Da es bei mir im Sommer passierte, nenne ich es meine Sommersonnengnade. Meistens passiert es mir im Sommer.  Wenn Sie mich fragen: Geben Sie Ihren Gnadenmomenten Namen. Verbinden Sie sie mit Ort und Zeit. Lichten Sie sie ab auf dem Grund Ihres Herzens. Sie sind kostbar und selten genug. Von ihnen kann man einige Zeit leben. Wie man überhaupt sein Leben aus der Gnade leben kann. Aber es braucht eben doch diese unvermittelten Gnadenmomente, die daran erinnern, dass das, was man  öfter hört, auch wahr ist. Wir brauchen diese herausgehobenen Geschenke für die Mühen der Ebene. Die beginnen ja jetzt für viele wieder. Die  Ferien sind zu Ende, nur in Bayern und Baden-Württemberg haben sie noch eine Woche. Irgendwann  ist es so weit und der zähe Alltag oder die schnellen Rhythmen unseres Lebens haben einen wieder. Erinnern sie sich an ihre Gnadenmomente und daran, dass Gott sie Ihnen weiter schenken will.

07.09.2016
Domprediger Michael Kösling