Der Engel im Anderen

Der Engel im Anderen
Pfarrer i.R. Alfred Buß
03.09.2016 - 23:45
20.04.2016
Alfred Buß

Dieser Tage habe ich einen Brief von meinem Onkel Hartwig wieder hervorgekramt. Vor jetzt 77 Jahren schrieb er als Soldat nach dem deutschen Überfall aus Polen: „Bereits am 2. September durften wir dem Feinde unsere Waffen vorführen. Der Pole versuchte alles... Aber deutsche Soldaten... waren dem Feinde überlegen... in dem Land, wo man kaum eine Kultur kennt.“

Den Gegner runtermachen - als minderwertig, fremd und finster - darin war der damals 22jährige Hartwig ganz Kind seiner Zeit.

Und doch zieht sich dieses Muster durch bis heute: Der einzelne Mensch wird kategorisiert und damit entwürdigt als „der Pole“, „der Jude“, „der Türke“, „der Kurde“, „der Flüchtling“, „der Muslim“... Fremde abstempeln, aber den eigenen Clan verherrlichen. Was in Kriegen unsägliches Leid über Menschen bringt  – beginnt mit dem Niedermachen in den Köpfen und Herzen. Es ist eine Spirale von Abwerten, Entwürdigen, gar Ausmerzen.

Mein Onkel wurde selbst Opfer des Krieges. 1943. 25 Jahre alt. Wie auch sein Bruder Alfred mit 22 Jahren.

Mein Cousin und ich tragen nun beider Namen. Hartwig und Alfred. Das ist auch gut so – es lässt die Toten nicht einfach ins Vergessen fallen.

Die Geschwisterliebe bleibe“ – sagt das Neue Testament, im Hebräerbrief, Kapitel 13 – um fortzufahren: „Die Fremdenliebe vergesst nicht.“

Fremdenliebe? Das war und ist wohl gerade ein Fremdwort - auch in Europa.

Und doch ist Fremdenliebe das, was aller Welt fehlt: Nicht nur sich selber, den Andersartigen sehen! Ihn würdigen. Darin liegt ein großes Versprechen: Die Fremdenliebe vergeßt nicht, sagt die Bibel - denn durch sie haben manche – ohne ihr Wissen – Engel beherbergt.

Wie das geht, erlebte unsere Familie eindrücklich an Michail, dem 18jährigen Schuster aus der Ukraine, Kriegsgefangener - als Zwangsarbeiter unserem kleinen Bauernhof zugewiesen, 1943. Mit der Familie durften Zwangsarbeiter nicht am Tisch sitzen - polizeilich vorgeschrieben -, in einer Heukammer schlief er.

Und doch unterstützte Michail unsere Mutter zwei Jahre lang nach Kräften, den Hof zu bearbeiten - bei vier Kindern, der Vater war als Soldat in Russland. Er wurde meinen Geschwistern zum großen Bruder, baute ihnen Spielsachen. Als schlussendlich die Front näherkam, brachte er das Vieh in Sicherheit und auch die Landmaschinen. Verpasste den Kindern noch einen Haarschnitt, wollte gar die Kühe noch melken, bevor er sich zur Sammelstelle begab nach der Kapitulation.

Fast sechs Jahrzehnte später suchten und fanden zwei meiner älteren Brüder den Engel ihrer Kindheit in der Ukraine wieder. Und erfuhren: Michail war von Stalin interniert worden als „Heimatverräter“, weil er Kriegsgefangener bei den Deutschen war. Auch an der Fachhochschule durfte er nicht studieren, trotz bestandener Prüfung. Wurde als einzelner Mensch entwürdigt, abgestempelt als  – „der Deutsche“.

Und schloss doch seine Besucher beim Wiedersehen in beide Arme. Rief: „Meine Kinder!“

Ja: Die Fremdenliebe vergeßt nicht - denn durch sie haben manche Engel beherbergt.

 

20.04.2016
Alfred Buß