Schneewittchen

Morgenandacht
Schneewittchen
Selig sind die Barmherzigen
06.09.2017 - 06:35
31.08.2017
Pfarrerin Angelika Obert

 

Meistens haben mich die Märchen als Kind nicht erschreckt, aber das Ende von Schneewittchen fand ich doch sehr gruselig. Da muss die böse Stiefmutter ja in rotglühende eiserne Pantoffeln treten und so lange tanzen, bis sie zur Erde fällt. Was für Folterqualen wird sie da erlitten haben! Irgendwie tat sie mir dann doch leid, so hart bestraft zu werden. Die glühenden Pantoffeln haben meine Phantasie beschäftigt.

 

Sie sind mir auch später immer wieder in den Sinn gekommen. Allerdings ist mir älter werdend dann allmählich aufgegangen: Schneewittchens Stiefmutter wurde gar nicht von irgendeiner höheren Märchenmacht bestraft. Sie hat sich die glühenden Pantoffeln schon selbst angezogen und sie ist bei Weitem nicht die Einzige, die am Ende ihres Lebens in mehr oder minder glühenden Pantoffeln tanzt. Heute jedenfalls ganz bestimmt nicht, wo es doch für so Viele gilt, gegen das Alter anzukämpfen, so lange wie möglich gut auszusehen, fit und leistungsfähig zu sein. Ich frage mich, ob ich nicht auch zu denen zähle, die gegen das Altern antanzen.

 

Das Märchen, das ja nun ganz für Schneewittchen Partei nimmt, schildert uns die Stiefmutter von vornherein als böse, neidisch und stolz. Aber vielleicht sollte man doch etwas mehr Verständnis für sie aufbringen: Dann ist sie einfach eine ehrgeizige Frau, die sich selbst die Latte hoch gelegt hat. Vielleicht wurde sie so erzogen. Jedenfalls kann sie sich selbst nur akzeptieren, wenn sie top ist: Sie muss top aussehen, top im Beruf, top in der Familie sein und außerdem auch noch ein paar Nebenaufgaben wahrnehmen, um die richtigen Leute kennenzulernen. Was hat sie nicht alles dafür tun müssen, bis sie mit ihrem Spiegelbild zufrieden war? Wie oft hat das Spieglein an der Wand wohl gesagt: Jetzt aber schleunigst Diät halten, joggen, Gymnastik morgens und abends! Und unbedingt noch eine Fortbildung machen! Und dringend kandidieren für den Vorsitz in diesem oder jenem Gremium! Immer stand sie unter Druck, besser zu werden. Oben anzukommen und dann natürlich: oben zu bleiben.

 

Es ist schon hart, wenn dann eines Tages der Spiegel an der Wand sagt: Da ist so eine Junge, die wird dich spielend ablösen. Die ist einfach besser. Das muss doch weh tun nach all der Mühe. Das macht Angst. Aber noch sitzt sie am Hebel. Eine Menge Energie, List und Tücke verwendet sie darauf, die junge Konkurrentin auszubremsen. Doch es funktioniert nicht. Immer unbarmherziger fordert das Spieglein an der Wand jetzt: Du musst noch mehr tun, um deine Stellung zu halten. Der innere Druck wächst, bei den Gebrüdern Grimm heißt es wörtlich „wie Unkraut in ihrem Herzen immer höher, dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte.“ Schönheitsfarm wird gebucht, berufliche Termine werden vermehrt – aber es nützt alles nichts: Am Ende ist Schneewittchen doch die neue Königin. „Da stieß das böse Weib einen Fluch aus und ward ihr so angst, so angst, dass sie sich gar nicht zu lassen wusste“ – so sagt es das Märchen.

 

Einen Augenblick lang erstarrt sie, aber dann kann sie nicht anders: Sie muss weiter tanzen, gegen die zunehmenden Falten und die schwindenden Kräfte antanzen. Das Spieglein an der Wand muss ihr immer noch beweisen: Du siehst doch noch gut aus, du bist doch noch fit, du bist noch gefragt. Ein Tanz auf glühenden Kohlen. Denn irgendwann wird das verdammte Spieglein ja sagen: Du siehst nicht mehr gut aus, du kannst nicht mehr mithalten – ja, du brauchst Hilfe.

 

Wäre sie doch nur barmherziger mit ihrem Spiegelbild gewesen, die glühenden Kohlen wären ihr am Ende erspart geblieben. Und all die ungeheure Energie, die sie darauf verwendet hat, ihre Konkurrentin zu bremsen – die hätte sie mit sehr viel mehr Ruhe und Freude auch dafür einsetzen können, denen nahe zu sein, die ihren Beistand gebraucht hätten. Wie unselig, wie unglücklich sind diejenigen, die ihrem eigenen Spiegelbild nicht gut sein können. So könnte man es sagen. Aber Jesus sagt es umgekehrt. Er sagt: Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Sie müssen am Ende nicht in glühenden Pantoffeln tanzen.

 

31.08.2017
Pfarrerin Angelika Obert