Die Tochter der Frau aus Syrophönizien

Am Sonntagmorgen
Die Tochter der Frau aus Syrophönizien
vom Geist und seiner Wirkung
24.05.2015 - 08:35
26.03.2015
Susanne Krahe

Klopfen

 

Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört. Es war kurz vor Sonnenuntergang! Wer klopfte um diese Zeit noch bei mir an?

 

Klopfen (lauter)

 

Nein, ich hatte mich nicht geirrt. Ich war nicht, wie es mir immer mal wieder passiert, auf einen meiner eigenen Gedanken hereingefallen, die gegen meine Schläfen hämmern, als suchten sie den Ausgang aus einem Kerker. Die Geräusche waren nicht aus meinem Inneren gekommen, sondern von Außen. Jetzt klopfte es schon zum dritten Mal. Da habe ich dann aufgemacht.

 

Das Erste, was der Gast vor sich her über meine Schwelle schob, waren die Blumen. Als er mich sah, ballte sich seine Faust um die Stengel. Durch das Gesicht des Mannes arbeitete sich Enttäuschung. Ich wusste sofort: Die Blumen waren nicht für mich bestimmt. Auch dieser Besucher hatte hinter meiner Tür wieder mal jemand Anderes erwartet, jemand Hübscheres, jemand Imposanteres als mich, eine schlecht frisierte junge Frau mit geschwollenen Händen.

 

Jetzt bloß nicht die Beleidigte spielen!

 

So hatte ich es schon mindestens ein Dutzend Mal machen müssen mit Leuten, die sich von Galiläa bis hierher durchgefragt hatten. Ich wisse sehr wohl, sagte ich frech, dass er eigentlich meine Mutter erwarte, aber meine Mutter sei nicht zu Hause. „Die berühmte ‚Hündin‘„, setzte ich süffisant hinzu, „hat schon vor Jahren unsere gemeinsame Hütte verlassen und wohnt heute woanders“.

 

Ich hätte ihn wegschicken können. Aber in unserer Gegend wurde es in spätestens einer Stunde stockdunkel. Außerdem sah dieser Besucher gar nicht so unsympathisch aus. Er hatte wache Augen. Die Art, wie er sich nach vorn beugte, erinnerte mich an die wenigen Männer in meiner Bekanntschaft, die gern und gut zuhören können, und die nicht gleich abwinken, wenn eine Geschichte sich anders entwickelt, als sie erwartet haben. Die meisten Leute, die sich zur Wohnung meiner Mutter in dieses Dorf durchschlagen, glauben ihre Geschichte nämlich allzu gut zu kennen.

 

Eine Frau, deren Tochter von einem unreinen Geist besessen war, hörte von Jesus. Sie kam sogleich herbei und fiel ihm zu Füßen.

Die Frau, von Geburt Syrophönizierin, war eine Heidin. Sie bat ihn, aus ihrer Tochter den Dämon auszutreiben.

Da sagte Jesus zu ihr: Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.

Sie erwiderte ihm: Ja, du hast recht, Herr! Aber auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen.

Er antwortete ihr: Weil du das gesagt hast, sage ich dir: Geh nach Hause, der Dämon hat deine Tochter verlassen.

Und als sie nach Hause kam, fand sie das Kind auf dem Bett liegen und sah, dass der Dämon es verlassen hatte. (Mk 7, 25 – 30)

 

 

Ich weiß: Eigentlich ging es in der Geschichte um meine Mutter und ihre mutige Tat. Als Tochter der Frau aus Syrophönizien spielte ich nur eine Nebenrolle. Anders als meine Frau Mutter habe ich mich ja auch nie um eine Hauptrolle in dem großen Drama gerissen. Welcher Sprössling einer hoch gerühmten Pflanze bekommt in ihrem Schatten schon genug Licht für die eigenen, zarten Blüten ab?

 

Ich bin daran gewöhnt: Alles dreht sich um meine Mutter. Ihr Bild ist in aller Welt zu monumentaler Größe angeschwollen. Ich dagegen verließ die Bühne, sobald meine Statistinnen-Rolle ausgespielt war.

 

An dieser Stelle unterbrach mich mein Gast. So unwichtig, wie ich, oder wie die Mutter mich aussehen ließ, sei ich doch gar nicht. Schließlich sei ich es gewesen, ich, das Kleinkind, das die legendäre Geschichte in Gang setzte. Ohne mich, ohne die Tochter und ihre unbeliebten Begabungen, hätte die Frau aus Syrophönizien nie ihren entscheidenden Schritt in Richtung Jesus gewagt!

 

O ja, meine Begabungen. Leider hat meine ach so verständige Frau Mutter nie erfasst, wie geborgen ich mich in der Welt meiner Geistesblitze fühlte. Was immer ich ihr zu verstehen gab – es blieb eine Fremdsprache für sie. Ich summte, und schaukelte auf meinen Fußsohlen auf und ab, wobei meine Zehen im Takt zu einer Melodie zuckten, die gar nicht erst zu ihr hindurch drang. Ich konnte mich mit Stimmen verständigen, die sie nicht mal flüstern hörte. Mutter fand meine Gabe einfach nur unheimlich. Ich entsprach so gar nicht dem Entwurf, den sie sich von ihrem Sprössling angelegt hatte. Ausgerechnet sie war mit einem verrückten Kind gestraft, einem brabbelnden Wesen, das fremdartige Laute zu unverständlichen Wörtern zusammensetzte. „Besessen“ sei ich, heulte sie in Richtung Himmel. Sie beschimpfte die Stimmen, mit denen ich im Chor sang, als „Dämonen“, als böse Geister, und sie wollte mir diese unheimlichen Mächte aus dem Leib prügeln. Sie packte mich. Sie stellte mich auf den Kopf, kehrte mein Oberstes nach unten, als ließen meine Eingebungen sich aus irgendeiner Körperöffnung schütteln.

 

 

Mein Gast war blass geworden. Er kannte die christliche Ikone eben nur aus den Lobliedern, die in Galiläa noch immer die Runde machen. Ich kann diese Hymnen schon lange nicht mehr hören. Die allererste Griechin, die sich zu Jesus und seinen Leuten geschlagen hatte, stand dort auf einem allzu hohen Podest. „Die Wagemutige“, wurde sie genannt. „Die Grenz-Überschreiterin“, bewunderte man sie.

 

Denn die neue Bewegung, die in den Spuren des Rabbi Jesus aus Nazareth in die Welt wanderte, wäre ohne die Heldentat meiner Mutter kleinkariert und provinziell geblieben. Ihr war es zu verdanken, dass der Horizont der Jesus-Nachfolger aufgerissen und weit geworden war. Nur den Talenten ihrer Tochter gegenüber öffnete sie sich nicht.

 

Mein Gast stutzte. War Mutters Art, sich gegen den Rabbi aufzulehnen, etwa nicht sensationell gewesen? Ja, an Selbstbewusstsein hatte es ihr nicht gefehlt. Als sie sich von unserem Haus in Richtung Jesus aufmachte, trug sie ihren Kopf stolz in die Höhe gereckt. „Er wird uns helfen!“ rief sie mir noch zu, und während ich ihr hinterher starrte, fragte ich mich, wer uns wobei zu Hilfe kommen musste. Aber meine Mutter war schon zu dem Rabbi unterwegs. Was wollte eine Griechin aus Phönizien beim Messias Israels? Er war kein Heiland für Ungläubige.

 

Auch deswegen wollte der Rabbi meine Mutter nach Hause zurückschicken. Aber dagegen wehrte sie sich so erfolgreich, dass er zum ersten und einzigen Mal seine Meinung zurücknahm.

 

Was war aber passiert?

 

Meine Mutter hatte ihn gebeten, ihrer armen, geplagten Tochter die Dämonen aus den Tagträumen zu rauben. Der jüdische Heiland bellte sie an: „Was willst du? Lasst zuerst die Kinder satt werden!“ Die „Kinder“, das waren die Leute aus Israel. Was der Messias dagegen von Leuten wie meiner Mutter und mir hielt, rutschte ihm auch noch heraus. Es war frech. Eine Beleidigung: „Es ist nicht recht“, schimpfte er, „den Kindern das Brot wegzunehmen, um es den Hunden vorzuwerfen“. Den Hunden! Was für eine Demütigung!

Jede Andere hätte dem eingebildeten Rabbi vor die Füße gespuckt. Meine Mutter aber taktierte. Sie tat, als gebe sie sich mit Abfällen des Gottesvolks zufrieden, als würden wir Ungläubigen auch von Essensresten noch satt. „Ja, Rabbi!“ räumte sie ein. „Und doch fressen die Hunde die Krümel, die die Kinder unter den Tisch fallen lassen.“

 

Das hat gesessen. Der Rabbi senkte den Kopf, überrumpelt, beschämt. Eine Ungläubige vertraute unerschütterlicher als der Messias persönlich, dass die Grenzen des Gottesreichs neu vermessen werden mussten.

 

 

Meinem Zuhörer wäre es lieber gewesen, wenn ich es bei dieser Erinnerung an den denkwürdigen Moment belassen hätte, der auch heidnische Frauen in die Schar der Nachfolger Jesu einschloss. Dass es in der Begegnung mit meiner Mutter um mehr als eine Grenze gegangen war, wusste mein Zuhörer natürlich nicht. Entsprechend verwundert blickte er mich an, als ich ihm klar machte, dass Jesus noch eine zweite Grenzöffnung in Richtung Himmelreich versucht hatte. Er wollte nämlich meiner Mutter die Idee ausreden, sich ihr durch die Heilung der abwesenden Tochter als wahrer Gottesmann zu beweisen. Sie solle doch mal an ihre ferne Tochter denken, drang er in sie. Wie verlassen würde das Kind sich fühlen, wenn die Stimmen des Geistes plötzlich in seinem Kopf verstummen?

 

Keine Fernheilung? Meine Mutter wurde ärgerlich. „Aber die Dämonen, die Geister, die Wahn­ideen!“ lamentierte sie.

 

Jesus durchschaute, dass sie sich nicht über meine Sorgen beschwerte, sondern über ihre eigenen. Er kannte viele Eltern, die ihre Kinder nicht verstanden. Was meiner Mutter um Gottes Willen eigentlich an ihrer Tochter nicht gefiel, wollte er wissen. Lief sie etwa dreckig zwischen Grabhöhlen herum und verletzte sich selbst, so wie andere Geisteskranke?

 

Die Gefragte schüttelte den Kopf. Trotzdem: Meine Mutter bestand auf dem, was sie für Heilung hielt. Und wenn er jetzt behaupte, er könne ihr diesen Gefallen nicht erweisen, dann müsse sie vermuten, er fühle sich immer noch einzig für Israel und seine Dämonen zuständig. Dann hätte er immer noch nicht recht verstanden, dass Gott ihn für die Erlösung der ganzen Welt ausgewählt hatte.

 

Der Wundermann seufzte. Traurig schüttelte er seinen Kopf. Doch dann schritt er zur Tat, und als er zögerlich die Hände zum Himmel hob, bekam meine Kinderwelt Risse. Schon klafften Spalten in meiner Behausung, und während er vorsichtig seine Hände von seinem Himmel abzog, brach sie über mir zusammen.

 

 

Fernheilung nannte man das. Meine Mutter weit weg, ich allein in dem Haus, in dem mir jede Spalte in der Wand vertraut war, jeder Windzug, der sich durch die Ritzen zwängte. Ich war ein Kind, habe gelallt, gebrabbelt, gezischt und gegurgelt wie gewohnt. Mit meinen Freunden, aber plötzlich antwortet keiner mehr. Entzauberte Welt. Entgeisterte Nüchternheit.

 

Als ich verzweifelt versuchte, die knittrigen Frätzchen meiner Spielkameraden aus den Bäumen zu schütteln, als ich sie aufforderte, mir um Himmels Willen wieder Gesellschaft zu leisten, schwebten nichts als langweilige, staubtrockene Blätter aus den Kronen. Ein Schock. Geheilt! Freute sich meine Mutter. Aber für mich war es ein Schock.

 

 

Mein Gegenüber sagte nichts mehr. Ratlosigkeit lief über sein Gesicht.

 

Unser beider Augen fielen auf den Blumenstrauß, der nicht für mich bestimmt gewesen war. Die Köpfe hatten sich aufgerichtet, die Stengel standen Spalier in meiner Vase! Wenn es nicht Nacht gewesen wäre, hätten sich sogar die Blüten geöffnet, da waren wir sicher. Nun hofften wir beide, dass diese Pflänzchen bis zum Tageslicht durchhielten, um endlich eigene Schatten zu werfen.

26.03.2015
Susanne Krahe