Erzähl mir, wie der Frieden kam!

Am Sonntagmorgen
Erzähl mir, wie der Frieden kam!
Zeitzeugen erinnern sich an den Mai 1945
10.05.2015 - 08:35
26.03.2015
Renate Kirsch

Weizsäcker: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung…

 

... betont der kürzlich verstorbene Altbundespräsident von Weizsäcker in seiner berühmten Rede zum 40. Gedenktag des Kriegsendes.

 

Weizsäcker: Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft...

 

Erzähl mir, wie kam der Frieden für Dich? habe ich gefragt. Für viele kam die Zeit nach dem 8. Mai 1945 erst ganz anders, nicht als Befreiung. Viele waren interniert in Gefangenenlagern, Zahllose waren ungebetene Flüchtlinge, Andere hungerten in zerbombten Städten oder kamen als Kriegsheimkehrer und mussten ihre Familien suchen. Das Elend war noch nicht zuende. Heute aber soll es um den 8. Mai als Tag der Befreiung gehen.

 

Mai 1945 – siebzig Jahre ist das her, mehr als eine Generation. Die Zeitzeugen werden rar. In der Regel waren sie damals so alt wie heute ihre Enkel oder gar Urenkel: sieben, acht oder neun Jahre alt. Ganz bewusst habe ich diese Kriegskinder von einst nach ihren Erinnerungen gefragt. Sie konnten hoffnungsvoller, zuversichtlicher, fröhlicher als ihre leiderfüllten Eltern entdecken, was Frieden ist.

 

Heino war damals 14jähriger Konfirmand, man rechnete ihn schon zu den Erwachsenen.

 

Heino: Eines Tages kam unser Lehrer und sagte: Ich habe eine Überraschung für euch. Ich bringe zwei Offiziere mit, die werden euch vom Krieg erzählen. Eine Stunde haben wir dafür Zeit. Es kamen in der Tat zwei Offiziere, der eine allerdings auf der Prothese, der andere mit nur einem Arm, aber beide hoch­dekoriert mit Ritterkreuz und eisernem Kreuz und so weiter. Und sie haben uns tatsächlich eine Stunde vom Krieg erzählt. Wir haben gespannt zugehört, denn es war viel spannender als dass wir eigentlich am Abend hätten haben sollen: Konfirmandenunterricht. Jedenfalls haben die uns dann am Schluss gefragt, ob wir Leutnant werden wollten. Denn es war ja noch Krieg .... Es meldete sich fast die ganze Klasse und dann sagte der Offizier: Dann seid ihr Kadetten. Wir kommen morgen und bringen euch Uniformen mit und Waffen. Das geschah auch so und dann wurden wir in der Tat im November und Dezember noch als Buben, nicht konfirmiert, aber als junge Kerls an Waffen ausgebildet. Und im Januar sollten wir dann auch nach Italien verlegt werden, nur diese Einheit von Buben, die in Uniform steckten und sollten gegen die Engländer kämpfen.

Genau das geschah auch. Wir wurden also mit der Bahn durch Südtirol in die Dolomiten gebracht. Und dort hieß es: In zwanzig Kilometern ist die Front und ihr geht jetzt als Erste gegen die Front und haltet die Engländer auf. Die erste Gruppe zog los. Ich war bei der zweiten Gruppe, musste also noch warten. Nach einer Stunde kamen die Kameraden zurück. Aber wie! Ohne militärische Abzeichen, die Achselklappen waren abgerissen, die Knöpfe waren zum Teil abgeschnitten und der eine trug sogar ein Plakat um den Hals, auf dem stand irgendetwas, das wir nicht lesen konnten. Und das Auffallendste aber war, dass all die Buben, die sieben Kerle, die zurückgekommen waren, kurze Hosen hatten. Die Engländer hatten ihnen nicht nur alles abgerissen, sie hatten ihnen auch die Hosen abgeschnitten. Unser Hauptfeldwebel sagte: “ Auf dem Plakat steht ja was: „We dont fight against children.“ Und das heißt: “Wir kämpfen nicht gegen Kinder!“ Da waren wir erst natürlich beleidigt, denn wir waren doch jetzt Männer! Aber dieser Hauptfeldwebel hatte etwas Gutes gemacht, einen vorbeifahrenden LKW der Deutschen Wehrmacht angehalten und hat denen nur gesagt:„ Nehmt diese Kinder mit und fahrt zum nächsten Bahnhof.“ Und so sind wir also zurück gebracht worden zum Bahnhof und zwei Nächte hindurch nach Bayern gebracht. Und so haben wir den Krieg überlebt.

 

... und waren – wie Heino noch heute bestätigt – vom Kriegspielen geheilt und befreit.

 

 

Für die damals 9-jährige Hanna kam der Frieden mit viel Traurigkeit daher...

 

Hanna: Wir lebten damals in einem kleinen Dorf, das weitab von den großen Geschehnissen lag. Das Kriegsende kam scheinbar sehr leise. – Jedenfalls kam es mir so vor. Es war nichts mehr zu hören vom Lärmen der Flak, die aus den Wäldern heraus Nürnberg beschossen hatte... Wir gingen nicht mehr zur Schule. In den letzten Schultagen hatten wir uns auf dem 3km langen Weg immer wieder vor Tieffliegern in den Wald retten müssen. Ein Bauernbub kommandierte uns in den Straßengraben, wenn ein Fluggeräusch zu hören war. Er war später einer von den Kindern, die beim Spielen mit Munition schwer verletzt wurden.

Dass die Amerikaner auch in unser Dorf kommen würden, war klar, aber wann und wie? Immer noch waren deutsche Soldaten auf dem Rückzug. Ein versprengtes Häuflein erreichte auch unser Dorf. Sie hatten ihre „ Küche“ dabei – einen großen Kessel auf Rädern, der uns Kinder besonders beeindruckte.

Bei unserem Haus bat der Koch um Wasser und kam mit meiner Mutter ins Gespräch. „Frau, kennen Sie die Wachau?“ fragte er sie in seinem tiefen österreichischen Dialekt. Er hoffte so seine schöne, geliebte Heimat bald wieder zu sehen. Meine Mutter war sehr berührt von diesem Gespräch. Ich habe den ganzen Jammer des Krieges und ein großes Verlorensein gespürt. Das Bild des zerlumpten, heimweh­kranken Soldaten und wie er mit dem Wassergefäß in der Hand da vor der Tür stand, habe ich nie mehr vergessen. Später erfuhren wir, dass er bei Gefechten mit Amerikanern, die es in den verstreuten Dörfern immer noch gab, ums Leben gekommen war. Darüber könnte ich heute noch weinen.

 

Mit ihrer roten Bluse, die ihr die Mutter aus der Hakenkreuzfahne geschneidert hatte, wäre sie gern bis in die Wachau gewandert. Aber dazu ist es leider nie gekommen.

 

 

Karlheinz, acht Jahre alt, spürt an einer einzigen ungewöhnlichen Begrüßung, dass die Angstzeit vorbei ist.

 

Karlheinz: Ich wundere mich, dass ich das behalten habe: Ein Frühjahrstag. Mit meiner Großmutter und meinem Großonkel Fritz und andern Leuten aus dem Dorf war ich mitgegangen in den Wald. Ein zugewiesenes Holzdeputat wurde geschlagen. Am späten Nachmittag, wir kommen zurück. Am Dorfeingang läuft uns der Ortsgruppenleiter der NSDAP entgegen: „Gon Dach ihr Leid – kein Heil Hitler – Gon Dach ihr Leid, die Amerikaner sind schon in Birkenfeld.“ ... Der Krieg war vorbei, keine Bomben mehr, keine Tiefflieger mehr, kein Hitler mehr!

Da gibt es noch ein Bild in meinem Kopf. Die Amerikaner waren da. Ich sehe mich mit anderen Kindern auf einer großen Blumenwiese spielen. Blauer Himmel, die Sonne scheint. Vor den Gesichtern haben wir Pappmasken mit Gummibändern. Wir tanzen, wir springen herum. Die Pappmasken hatte uns der Frisör im Dorf verkauft. Fasenachtsmasken, Faschingsmasken. Im Krieg gab es so etwas nicht. Wir spielen und tanzen. Hinter den Masken ist die Freiheit.

 

 

Könnte es einen schöneren Tanz zum 8. Mai geben als den der Kriegskinder auf der Frühlingswiese? Freudentänze gab es auch bei der kleinen Christel, die mit Mutter, Großmutter und dem Bruder, mitten auf der Straße jubelt. Sehr zum Ärger – aber das erzählt sie noch:

 

Christel: Bei uns in der Straße gab es sehr viele Nazis und ich wusste schon als Kind mit sieben Jahren oder schon früher, ... wer ein Nazi war, wo man vorsichtig sein musste und wo man auch mal was sagen durfte... Aber ich hab da immer sehr genau aufgepasst. Gegenüber von unserem Haus wohnte eine absolute Nazifamilie und es war schon gefährlich. Meine Eltern waren irgendwie immer mit einem Fuß im KZ, weil sie nicht sehr vorsichtig waren und ab und zu ist ihnen eben doch mal was rausgerutscht, aber es ist immer gut abgegangen. Nun, wie war das an dem Tag Null, als die Amerikaner endlich kamen? Mein Bruder war mit vierzehn Jahren noch zur Flak eingezogen worden in den letzten Tagen. Es war furchtbar, wie er da aus dem Haus gehen musste. Und er kam aber Gott sei Dank gesund wieder. Und wir haben irgendwie schon so in den Startlöchern gesessen und gewartet bis hoffentlich bald die Ameri­kaner kommen. Und endlich hörte man dieses Dröhnen von den Panzern in der großen Straße, die von Augsburg her führte. Und dann kam auch irgendwie noch der Stadtkämmerer mit der weißen Fahne entgegen. Man hat es von Weitem gesehen. Und mein Bruder rannte die Treppen hoch und hat gesagt: „Sie kommen, sie kommen!“ Und dann rasten wir also raus auf die Straße und alles stand schon rum, die Großmutter kam noch hinterher, die bei uns Wohnung wieder gefunden hatte, nachdem sie in München ausgebombt war 1944. Und man hat die Panzer reinrollen sehen und hören mit einem Mordsgedröhn. Und da hat meine Mutter gesagt: „Kinder, Gott sei Dank, sie kommen!“ Und wir haben uns umarmt, waren voller Freude, endlich die Erlösung. Und gegenüber schaute die gefürchtete Nazifrau zum Fenster raus und schaute schon so grimmig und dann hat sie, wie sie uns gesehen hat, wie wir da so Freuden­tänze aufführen, das Fenster zugeworfen und das zersprang in tausend Scherben. Ja, und wir haben uns gefreut, dass sie sich nicht freut. Später haben wir dann erfahren, dass diese selbe Frau mal gesagt hat: „Ja, solche Leute, wie diese Nachbarn da, sind schuld, dass wir den Krieg verloren haben“.

 

Wie der Frieden kam – und wie Frieden werden kann, diese Fragen stelle ich mir selbst auch immer wieder. Damals, vor 70 Jahren, kam der Frieden für mich wie der Frühling. Die Bäume im Schaumburger Wald standen in hellgrüner Maienpracht. Das achtjährige Stadtkind, das ich damals war, staunte. Es kam aus dem zerbombten Hannover und hatte einen solchen Frühling noch nie erlebt. Aber es wurde noch schöner. „Der Krieg ist vorbei,“ hieß es, „wir werden am Sonntag alle in den Wald ziehen und Gottesdienst feiern!“ Keine Tiefflieger mehr? Ich konnte das noch nicht so recht glauben. Uns Kindern sagte man: „Wenn euch im Wald die Engländer fragen, was ihr da wollt, müsst ihr nur sagen CHURCH, das heißt Kirche, dann lassen sie euch weitergehen.“ Church – mein erstes englisches Wort! Bis wir uns auf dem Waldplatz niederließen, wieder­holte ich es immer wieder. Church. Aber es kamen keine Engländer. Stattdessen stimmten die Musikanten das erste Lied an. Ich kannte es nicht und staunte: „O dass ich tausend Zungen hätte...“ Tausend Zungen? Wie geht das? Vom Tausendjährigen Reich hatten Leute geredet und dass das jetzt nicht mehr gilt. Ich summte mit, denn die Melodie war so schön, so fröhlich. Dabei schaute ich hinauf durch die tausend grünen Blätter in den Himmel. Keine Flugzeuge zu sehen, keine Bomben, keine Sirenen zu hören. „Wenn der Frieden kommt...“ wie oft hatte meine Mutter das gesagt! Jetzt, jetzt war er da, hier in der Church im Wald. Und der Pastor sagte am Ende dann auch was mit Frieden: „Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft“. Mehr hat das Kind damals nicht verstanden, aber das reichte ja.

 

Als das Schreckliche vorbei war, das war für mich ein Stück vom Himmel! Der Hass hört auf, Zerstörung hört auf, die Angst hört auf und die Kinder spielen auf der Blumenwiese. Die Welt mit den Friedensaugen der Kinder sehen. Die Bibel sagt, da fängt das Reich Gottes an. Wenn die Erwachsenen langsam lernen, aus dem Schema von Sieg oder Niederlage herauszukommen. Flucht in die Idylle? O nein, es wird immer wieder harte Arbeit sein, aus dem Freund-Feind-Denken heraus zu kommen, sich davon befreien zu lassen. Ange­sichts von so viel Krieg und Gewalt in unseren Tagen ist der Glaube daran, dass Frieden möglich ist, den einen eine Torheit. Und den anderen ist er die einzige Hoffnung zum Leben.

26.03.2015
Renate Kirsch