Haarige Geschichten

Am Sonntagmorgen
Haarige Geschichten
Biblische Frisuren und modernes Selbstbild
26.02.2017 - 08:35
26.02.2017
Pfarrer Martin Vorländer

Bei dem einen fängt es mit Geheimratsecken an. Ein anderer streicht über die sonst dichte Mähne und ertastet auf einmal eine verdächtig lichte Stelle am Hinterkopf. Hat sich da ein Nest gebildet, aus dem demnächst die Glatze schlüpft? Solche kahlen Stellen lassen sich anfangs noch unter dem Deckhaar kaschieren. Doch dann wird auch das Haar auf dem Scheitel dünn. Unaufhaltsam fräst sich die Glatze ihren Weg. Im Kamm und auf dem Kopfkissen findet man immer mehr Haare. Nun hat man zwei Möglichkeiten. Man lässt den verbleibenden Haarkranz lang wachsen und klebt die Strähnen mit viel Pomade über die kahle Fläche. Meistens sieht dieser Versuch nicht glücklich aus. Dann lieber Möglichkeit zwei: zur Glatze stehen, die Restbestände kurz scheren und den Charakterkopf mit Würde präsentieren. Manchem Betroffenem hilft Humor. „Gott schuf einige vollkommene Schädel. Die übrigen bedeckte er gnädig mit Haar.“

 

Haare, ob man welche hat oder nicht, erzählen viel von einem Menschen. Wer einen „bad hair day“ hat und am Morgen die Frisur nicht in den Griff bekommt, fürchtet, der ganze Tag wird ihm oder ihr entgleiten. Ist nach einer Trennung oder Krise das Tal der Tränen durchschritten, dann machen besonders gerne Frauen den Neubeginn mit einem neuen Haarschnitt oder mit neuer Haarfarbe sichtbar. Hier bin ich, auferstanden wie der Phoenix aus der Asche!

 

Frisur ist keine reine Privatsache. Sie hat öffentliche, mitunter sogar politische Bedeutung. Bei Angela Merkel konnte die Republik zusehen, wie sich die vormals traurig hängenden Strähnen zu einer Krone formten. „Can I mess your hair?“, fragte der Talkmaster Jimmy Fallon den damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. „Darf ich Ihre Frisur zerzausen?“ Vielleicht wollte er wissen, ob die Tolle echt ist oder nur Fake und heiße Luft. Trump erlaubte es.

 

Haare. Eigentlich sind sie nichts anderes als Fäden aus Kreatin, Restbestände des Fells, das wir einst am ganzen Körper hatten. Doch Haare sind mehr. Was Haare über uns erzählen fängt schon bei den biblischen Frisuren an. Ob Löwenmähne oder Glatze, was ich auf dem Kopf trage, vermittelt eine Botschaft.

 

 

In der Bibel ist Frisur keine reine Privatsache. Haare sind ein Politikum. Schon an der Haartracht sollte man im biblischen Israel erkennen, ob einer zum Volk Gottes gehört oder nicht. Im Prophetenbuch Jeremia heißt es: „Alle, die sich das Haar stutzen“, das sind die anderen, die Unbeschnittenen, die Gott heimsucht.[i] Von denen sollen sich die Israeliten unterscheiden. Das biblische Buch Levitikus macht konkrete Frisurvorschriften: „Ihr sollt euer Haar am Haupt nicht rundherum abschneiden noch euren Bart stutzen.“[ii] Eine Vokuhila – die Haare vorne kurz, hinten lang – kombiniert mit einem episch langen Bart geht also biblisch in Ordnung.

 

Dem Apostel Paulus allerdings würden bei dem Anblick von Männern mit Löwenmähne die Haare zu Berge stehen. Er meinte nämlich, dass es für einen Mann widernatürlich und „eine Unehre ist, wenn er langes Haar trägt“.[iii] Wer also die Bibel wortwörtlich verstehen will, hat spätestens beim Friseur ein Problem: Nach Levitikus nur hie und da Spitzen schneiden oder mit Paulus unbedingt kurz?

 

Für die Frau hat Paulus auch eine Einheits-Frisur vorgesehen. Für sie kämen nur lange Haare in Frage. Alles andere wäre eine Schande. Ihre wallende Mähne sollte sie jedoch beim Beten bedecken. Die Frau sei schließlich der Abglanz des Mannes und könnte mit ihrer zur Schau gestellten Pracht auf dem Kopf die Engel durcheinander bringen. Der Mann als Abglanz Gottes dagegen kann selbstverständlich unverhüllt beten.

 

So brillant der Apostel Paulus sonst denkt und schreibt, so festgefahren ist seine Vorstellung von Mann und Frau im Allgemeinen und ihren Haaren im Besonderen. Fast scheint es, als hätte Paulus selbst bemerkt, was für männerzentrierte Haarspaltereien er hier betreibt. Denn er schiebt beschwichtigend hinterher: „Doch im Herrn ist weder die Frau ohne den Mann noch der Mann ohne die Frau.“[iv]

 

Auch dem hier rigide argumentierenden Paulus merkt man an, welche besondere Rolle die Haare im alten Orient spielen. In der Bibel stehen sie für Vitalität und Erotik. Sie wachsen und sind damit ein Zeichen für eine Lebenskraft, die man manchmal kaum bändigen kann. Der Sieger, der dem Besiegten den Kopf kahl schert, will zeigen: Ich habe dich erniedrigt und dir jede Kraft genommen.

 

 

Ein starker Kerl dank seiner üppigen Haare ist in der Bibel ein Mann namens Simson.[v] Der Name bedeutet „kleine Sonne“. Ein Sonnenschein war er wohl für seine Eltern. Die hatten die Hoffnung schon aufgegeben, noch ein Kind zu bekommen. Da verheißt ihnen ein Engel, dass sie doch noch Eltern werden. Der Engel sagt: Euer Sohn ist Gott geweiht und wird anfangen, Israel zu retten.[vi]

 

Gott geweiht, das bedeutet: Simson soll sein Leben lang nichts Unreines essen und keinen Alkohol trinken. Außerdem soll ihm „kein Schermesser aufs Haupt kommen“. Darin zeigt sich der besondere Segen Gottes, der auf ihm liegt. Simson, der langhaarige Hippie Gottes, wird zum Schrecken der Philister, die das biblische Israel damals bedrängen. Er fackelt ihre Felder ab, indem er 300 Füchsen Fackeln an den Schwanz bindet und sie über die Getreideäcker der Philister jagt. Er zerreißt einen jungen Löwen mit bloßen Händen und erschlägt eben mal 1000 seiner Feinde mit dem herumliegenden Kinnbacken eines Esels. Aber auch das Kraftpaket Simson hat eine Schwäche.

 

 

Simson ist in der Bibel der haarige Held der Israeliten. Und er ist ein Frauenheld. Besonders auf die Philisterinnen hat er ein Auge geworfen. Nach verschiedenen Affären wird ihm Delila zum Verhängnis. Er scheint der Femme fatale verfallen und verblendet dafür, wie sie seine Lust für ihre List verwendet. Sie handelt als bezahlte Agentin ihres Volkes, der Philister, und will Simson das Geheimnis seiner Kraft entlocken. Delila muss ihre falschen Absichten nicht einmal verbergen. Simson ist so verknallt, dass er nicht von ihr lassen kann, obwohl klar ist, welches Spiel sie spielt.

 

Ein ums andere Mal flötet sie ihm ins Ohr: „Sag mir doch, worin deine große Kraft liegt!“ Die ersten drei Male überlistet Simson die Intrigantin und erzählt ihr etwas von frischem Bast, neuen Stricken oder geflochtenen Zöpfen, mit denen man ihn fesseln könne. Das alles ist natürlich eine Finte von ihm. Delila probiert es aus, ihn mit Bast, Stricken und Zöpfen zu überwältigen. Aber sie scheitert. Da fährt sie emotional hartes Geschütz auf. „Du hast mich nicht lieb, sonst würdest du mich nicht belügen.“ Bei diesen Worten wird Simson schwach und verrät ihr das Geheimnis seiner Haare: Wenn man sie abschneidet, hat er keine Kraft mehr. Als Simson in Delilas Schoß einschläft, greift sie zur Schere. Ab ist die Lockenpracht und alle Kraft dahin. Die Philister überwältigen Simson, stechen ihm die Augen aus und legen den geschorenen, erschlafften Helden in Ketten.

 

Doch Haare haben eine unschlagbare Stärke. Sie wachsen nach. Die Philister wollen Simson als Trophäe zur Volksbelustigung bei einem Fest vorführen. Sie stellen den blinden, doch nicht mehr kahlköpfigen Mann zwischen zwei Säulen aus in einem Haus voller Leute. Simson ruft: „Herr, gib mir Kraft, noch dies eine Mal!“ Und bringt die Säulen zum Einsturz. Das Haus fällt ein und begräbt alles Volk unter sich. Noch im Tod erfüllt Simson seine Mission, sein Volk vor dessen Feinden zu retten. Seine Brüder ziehen Simsons Leiche aus den Trümmern und bestatten ihn im Grab seines Vaters.

 

Die Mischung aus Heldentaten und Abenteuer, Gewalt, Erotik und Intrige hat die Geschichte von Simson und Delila zu einem beliebten Motiv in der Kunst und zum Erzählstoff für Literatur und Hollywoodfilme gemacht. In illustrierten Bibelausgaben aus dem Mittelalter werden gerne Szenen aus der Simsongeschichte neben Darstellungen vom Wirken Christi gestellt. Simson besiegt den Löwen – Christus überwindet den Teufel. Simson bringt Tore zum Einsturz. Christus sprengt die Pforten der Hölle.

 

Haare stehen für die Kraft Gottes. Das findet sich auch in den Bildern von Jesus wieder. Oder haben Sie schon einmal einen Jesus mit Glatze gesehen? Auch einem 33-Jährigen können die Haare ausgehen. Doch Jesus wird selbst am Kreuz mit langen Haaren dargestellt. „My hair as Jesus wore it. Hallelujah, I adore it“, heißt es im Titelsong aus dem Musical „Hair“ von 1968. Darin singt ein langhaariger junger Mann stellvertretend für alle Hippies und Rastafaris mit ihren Dreadlocks: „Meine Haare sind so lang, wie Jesus sie trug. Maria liebte ihren Sohn. Warum liebt meine Mutter mich nicht?“

 

 

Die Bibel betreibt keinen Jugendkult. Sie findet auch graue Haare schön. Das Buch der Sprüche weiß: „Graue Haare sind eine Krone der Ehre; auf dem Weg der Gerechtigkeit wird sie gefunden.“[vii] Und auch für Menschen mit Haarausfall hält die Bibel Trost bereit. Ob man am Hinterkopf kahl wird oder die Haare vorne ausfallen – beides erklärt das Buch Levitikus für rein.[viii] Glück gehabt!

 

Haarausfall bei Männern ist normal und trotzdem eine Herausforderung. Ich hatte drahtige Haare, die kaum zu bändigen waren. Die fielen mir schon mit Anfang 20 aus. Ich musste mich verabschieden von dem Bild, das ich von mir selber hatte, und von dem Bild, das die anderen sich von mir gemacht haben. Mitunter kommt dem geschwächten Selbstbewusstsein die Mode zur Hilfe. Männer mit Glatze gelten seit einiger Zeit wieder als schnittig, kantig, attraktiv.

 

Dünner werdendes Haar gibt es auch bei Frauen, und auch nicht nur als Alterserscheinung. Julika Weiherer war Mitte 20, bekam ein Kind – und totalen Haarausfall. Sie war bekannt für ihre langen, vollen Haare. Nun fielen sie ihr büschelweise aus. Alle. Die Kopfhaare, die Augenbrauen, die Wimpern. Sie lief von Spezialist zu Spezialist. Keiner fand eine Ursache, geschweige denn ein Gegenmittel. Bei ihrer Hochzeit trug Julika eine Perücke. „Doch die habe ich danach nie wieder aufgesetzt“, erzählt sie. „Ich habe gemerkt: Das bin nicht mehr ich. Ich bin nicht mehr die Frau mit den langen Haaren. Ich bin die Frau mit Glatze.“

 

Heute versteckt sie ihren Kopf nicht mehr. Sie hat ihn zu ihrer Marke gemacht. Privat wie beruflich. Sie macht nebenbei „Werbung mit Kopf“. Firmen können ihre Glatze als Werbefläche zum Beispiel auf Messen mieten. Julikas Kopf wird dann kunstvoll bemalt – ein Hingucker.

 

Jesus sagt einmal: „Die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt. Fürchtet euch nicht!“[ix] Als Mann mit Glatze mache ich dem Schöpfer wenigstens beim Haarezählen nicht so viel Arbeit. Und ich denke, er gibt mir Kraft – mit oder oben ohne.

 

 

Link: Werbung mit Kopf – Glatze als Werbefläche unter www.julikohler.de

 

[i] Jeremia 9,25

[ii] Levitikus 19,27

[iii] 1. Korinther 11,14

[iv] 1. Korinther 11,7-12

[v] Richter 13-16

[vi] Richter 13,5

[vii] Sprüche 16,31

[viii] Levitikus 16,4

[ix] Lukas 12,7

26.02.2017
Pfarrer Martin Vorländer