"Ich will euch tragen, bis ihr grau werdet"

Am Sonntagmorgen
"Ich will euch tragen, bis ihr grau werdet"
100 Alte als Altarbild
11.10.2015 - 08:35
26.06.2015
Pfarrer Hans-Jürgen Benedict

Wie werden wir aussehen, wenn wir alt sind? Eher Schmunzel- oder eher Sorgenfalten? Schauen wir mit gütigem oder verbittertem Blick auf unser Leben? Was bereuen wir und was würden wir genauso wieder tun? Und wenn wir nicht mehr sind? Wer erinnert sich der Glücksmomente und Niederlagen unseres Lebens? Oder werden wir rasch vergessen sein?

 

Viele Fragen, die in eine Frage münden: Was gibt Hoffnung und Trost, wenn Menschen ihrem Ende entgegengehen?

Eine Antwort auf diese Fragen hat in den vergangenen drei Jahren die Installation 100 Alte an der Altarwand der Christophoruskirche in Berlin-Friedrichshagen zu geben versucht. Einhundert auf Goldgrund gemalte Gesichter von alten Menschen aus dem Alten-und Pflegeheim Köpenick, zu einer Bildwand zusammengefügt, umrahmten das steinerne Altarbild der Kreuzigungsszene. Leuchtende Farben auf einer Fläche von vier mal fünf Metern.  Ein Altarbild unter dem biblischen Motto: „Ich will euch tragen, bis ihr grau werdet.“ Platziert an diesem heiligen Ort, sagt die Bildwand: Jeder Mensch ist so etwas wie eine heilige Person, gemalt auf Goldgrund. Mit den Falten und Runzeln des Alters.

Urheberin dieser Porträts ist die Berliner Künstlerin Barbara Gerasch. Im Seniorenzentrum Köpenick sah sie eine von den Bewohnern selbst gestaltete Foto-Ausstellung mit alten Familienfotos, Briefen und Erinnerungsstücken, die quer durch ein ganzes Jahrhundert reichten. Barbara Gerasch erinnert sich:

 

„So viele Lebensgeschichten, Erinnerungen, Wissen und Weisheit waren hier gebündelt und nur wenige, zumeist Angehörige und Besucher der Heimbewohner, nahmen dies großartige jedoch unscheinbare Zeugnis wahr. Ich hatte auf einmal den Wunsch, die Alten aus ihrer Anonymität ins Rampenlicht zu holen. So entstand die Idee von ikonenhaften Abbildern alter Menschen. Die Zahl hundert steht dabei symbolisch für das, was wir heute schlechthin als wirklich alt bezeichnen. Von April bis Juni 2008 realisierte ich einhundert öffentliche Porträtsitzungen im Foyer des Seniorenzentrums Köpenick. Wöchentlich entstanden jeweils 10 Porträts. Für jedes nahm ich mir eine Stunde Zeit.“ (B. Gerasch / A. Höner, Ich will euch tragen bis ins Alter, Berlin 2015, S.15)

 

Zuerst entwirft Barbara Gerasch den Malgrund: 100 Holztafeln bespannt sie mit einer Strukturtapete. Dann wird jede Tafel mit Blattgold überzogen. Gold als Zeichen der Wertschätzung. Diese Tafeln werden dann mit der Ankündigung des Vorhabens in allen Fluren des Heims aufgehängt. Die Bewohnerinnen und Bewohner betrachten sie zunächst voller Skepsis: „Da soll ich drauf? Das ist doch Gold?“ – „Ja, eben darum“, antwortet die Künstlerin. - Und dann kommen die ersten, um sich tatsächlich malen zu lassen. In einem Tagebuch hält Barbara Gerasch ihre Eindrücke von den Porträtsitzungen fest.

 

„Herr Thiel und Frau Noack lernten sich im Heim kennen und schätzen. Während Herr Thiel einige Zeit seines Lebens auf der Straße gelebt hatte, arbeitete sie zu DDR-Zeiten als Wirtschaftsjuristin. Als Herr Thiel mir gegenüber saß, konnte ich durch all die Bartstoppeln und das aufgedunsene Gesicht noch den Hallodri von einst erkennen: Er musste einmal ein Hans Albers-Typ gewesen sein. Mit seinem Abbild bin ich wirklich zufrieden und seine Freundin ist, wie immer leicht sarkastisch, der Meinung, so gut habe er noch nie ausgesehen.“ (Gerasch / Höner, 22f)

 

Ein Alten- und Pflegeheim steckt voller oft schwerer Lebensschicksale. Viele der Bewohner sind verwirrt, dement, vom Leben gezeichnet. Im Alter treten oft negative Charakterzüge hervor. Manchmal erkennt man die früheren Persönlichkeiten kaum noch, und die Individualität scheint verloren zu gehen. Und doch leuchtet in den alten Menschen immer wieder auf, was sie einmalig und besonders macht. Für die Künstlerin ist die Konfrontation mit hochbetagten Menschen nicht leicht. Immer wieder gerät sie beim Portraitieren an ihre Grenzen.

 

„Mein letztes Modell am heutigen Tag war eine wirkliche Herausforderung. Er war schon stark dement, wusste aber doch genau, dass er gemalt wird. Sie nennen ihn den alten Knurrhahn. Und in der Tat fing er alle paar Minuten an zu knurren und kam mit seinem Rollstuhl immer näher auf mich zu. Er war wohl ungeduldig und auch neugierig und ich habe ihn dann behutsam und lächelnd wieder an seinen Platz geschoben. Na ja, irgendwann habe ich dann aufgegeben und versucht das Beste aus dem Bild zu machen.“ (Gerasch / Höner, 128)

 

Unvergesslich auch die Begegnung mit der an Alzheimer erkrankten Frau Langner. Ihre Tochter kommt fast täglich ins Heim und besucht mit ihrer oft unverständlich schreienden Mutter das Cafe. Die Malerin ist zunächst sehr befangen:

 

„Aber es war dann eine unglaublich schöne Begegnung: Die Frau war erst 76 Jahre alt, wirkte aber fast wie eine Hundertjährige. Sie ist bereits von der Krankheit gezeichnet, hatte aber wunderbares glänzendes Haar wie ein junges Mädchen. Von Frau Langners Tochter erfuhr ich, dass ihre Mutter fünf Kinder großgezogen und als Schneiderin gearbeitet hatte... Während der Porträtsitzung fädelte die alte Dame dauernd imaginäre Fäden in Nadeln ein, schnitt Kleidungsstücke zu und rief laut nach ihren Kindern, die vom Spielen hereinkommen sollten. Das also hat es mit dem Schreien auf sich, dachte ich bei mir. Wie schön und traurig zugleich.“ (Gerasch / Höner, 26)

 

Die Porträtmalerei hat positive Auswirkungen auf die Porträtierten. Die Öffentlichkeitsreferentin des Seniorenzentrums, Sylvia Hörchner, war bei vielen Sitzungen dabei. Sie hat beobachtet:

 

„Am meisten beeindruckte mich, wie sich die dementiell beeinträchtigten Menschen in der Rolle der Porträtierten veränderten. Sie hatten eine andere Präsenz als gewohnt. Haben sie geahnt, dass da jemand ist, der wie sie selbst nach dem Grund ihrer Persönlichkeit forscht und das, was jetzt ist, anzuerkennen versucht?“ (Gerasch / Höner, 53)

 

Möglicherweise wäre dieses Projekt nach seiner Ausstellung im Seniorenzentrum Köpenick vergessen worden. Doch als der für Kunst aufgeschlossene Pfarrer Alexander Höner bei einem Besuch die Porträts entdeckt, ist die Idee zu einer Kunstinstallation in seiner Friedrichshagener Kirche geboren. Die weiße Altarwand scheint ihm ein guter Platz zu sein. Barbara Gerasch ist einverstanden, der Gemeindekirchenrat stimmt zu. Eine Tischlerei baut ein Holzgerüst, an dem die einhundert Porträts befestigt werden. Sie umrahmen das steinerne Altarbild mit der Kreuzigungsszene und zwei Darstellungen von Brot und Wein rechts und links der Kreuzigung.

Birgit Ladewig, die Vorsitzende des Gemeindekirchenrats, kommt am Tag des Aufbaus der Installation zufällig an der Kirche vorbei:

 

Ich war überwältigt. Alles war schon fertig. Um den Altar schimmerte es goldfarben und von ferne konnte ich die Gesichter sehen. Wie festlich und erhaben und verändert es aussah! Geradezu ergriffen stand ich da. Ich ging in freudiger Hochstimmung weiter zur S-Bahn. Im Büro kam ich ganz beschwingt an und erzählte meinen in der Hauptsache kirchenfernen Kolleginnen und Kollegen von der Installation der 100 Alten.“ (Gerasch / Höner, 66)

 

In einem Gottesdienst wird der Gemeinde das neue Altarbild vorgestellt. Pfarrer Höner begründet in seiner Predigt, warum sich der Gemeindekirchenrat für das Projekt entschieden hat: Kirche sei auch ein Ort des Aufrüttelns. Die Kreuzigungsszene, die jetzt von den 100 Alten umrahmt werde, sage:

 

„Gott geht bis in die tiefsten Tiefen mit uns. Er hat unsere Niederlagen und Brüche erlebt. Welche Niederlagen und Brüche wohl die hundert Alten in ihrem Leben gehabt haben? Welche Leidensgeschichten erzählen ihre zerfurchten Gesichter, ihre nachdenklichen Blicke, ihre strengen Münder? Die Hundert Alten haben bei uns eine Mitte bekommen – Jesus am Kreuz. Egal ob die dargestellten Menschen an Gott glauben oder nicht. Ihr Leiden ist auch Jesu Leiden, ihr Scheitern ist auch Jesu Scheitern. Ihre Tränen sind auch Jesu Tränen.“ (Gerasch / Höner, 60)

 

Pfarrer Höner geht in seiner Predigt noch weiter und sagt, die Alten auf dem Blattgold würden zu Ikonen. Und als solche öffnen sie den Blick auf Gott:

 

„Die Alten gucken uns an und sprechen uns die Weisheit des Psalmbeters zu: ‚Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.‘ Das Leben ist kostbar, gerade weil es ein Ende hat. Ein langes Leben ist ein Geschenk: nicht nur für einen selber, sondern auch für die Gemeinschaft. Ein Mensch ist schön, wenn er jung und ohne Falten ist, und ein Mensch ist schön, wenn auf seinem Gesicht sein Leben abzulesen ist.“ (Gerasch /  Höner, 60)

 

Nicht alle Gemeindeglieder sind überzeugt. Kritische Stimmen melden sich: Bilder mit unbekannten kirchenfernen Personen gehören nicht in eine Kirche, lautet ihr Einwand. Und:

 

„Während des Gottesdienstes schwenkt der Blick unwillkürlich immer wieder zu den Gesichtern und lenkt die Gedanken von dem Eigentlichen ab. Man kann auch sagen, sie sind ein Störfaktor.“ (Gerasch / Höner, 93)

 

Doch die meisten Reaktionen in der Christophorusgemeinde auf das neue Altarbild sind positiv. Eine Frau, die zufällig die Gemeinde besucht, ist zutiefst beeindruckt:

 

„Das sind vollkommen ungeschönte Gesichter, aus denen ein langes Leben abzulesen ist. Und sie sind so um die Jesusfigur gruppiert, dass Jesus sich sozusagen mitten im Volk befindet. Der Glanz der Bilder und deren Würde strahlen auf ihn ab. Das ist ein sehr berührender Eindruck. Diese Verbindung von Gott und Mensch kommt selten so schön zum Ausdruck.“ (Gerasch / Höner, 91)

 

Wenn Gesichter ganz normaler Menschen, keine biblischen Personen, Heilige oder Märtyrer in der Kirche im Altarraum dargestellt werden, verändert sich der Bildgebrauch. Er sagt: jede Person hat etwas Heiliges.

Mit der Bilderwand 100 Alte im Altarraum wird der Gedanke der Gottebenbildlichkeit gestärkt. Jeder Mensch, ob Christ oder nicht, ist Gottes Ebenbild, ist von Gott als Mensch anerkannt - und damit auch von den anderen Menschen anzuerkennen.

Mehr noch: in der Bilderwand werden Jesu Worte „Ich war hungrig, nackt, krank, gefangen, und ihr habt mich besucht“ quasi ergänzt: „Ich war alt und dement, und ihr habt mich besucht.“

 

In den vergangenen drei Jahren ist die Installation 100 Alte auch zu einem Grabdenkmal geworden. Über die Hälfte der abgebildeten Menschen ist inzwischen verstorben. Es hat schon Trauerfeiern für Verstorbene vor dem Altarbild gegeben. Und wer als Angehöriger die Kirche besucht, kann das Bild seiner Mutter oder seines Vaters noch einmal an der Altarwand sehen. Auf Goldgrund gemalt, ist ihnen ein Stück ewiges Leuchten geschenkt. Ein Leuchten, das dem ähnlich ist, dass die christlichen Marien- und Heiligendarstellungen noch tausend Jahre nach ihrer Herstellung ausstrahlen.

Inzwischen ist die Altarwand 100 Alte in eine andere Berliner Kirche umgezogen: nach St. Bartholomäus im Friedrichshain. Und die Mitglieder der Christophorusgemeinde spüren, dass ihnen etwas fehlt: diese merkwürdige Versammlung alter Menschen auf Goldgrund , diese seltsame Gemeinschaft zeitgenössischer Heiliger, deren alte und zerfurchte Gesichter noch einmal leuchten. Überstrahlt von dem Licht der Gegenwart des leidenden und auferstandenen Christus, sagen einige. Andere meinen: Erfüllt von dem Glanz, den jedes noch so unscheinbare Leben in sich trägt.

 

 

Musik dieser Sendung:
Et in spiritum sanctum, Mass in B Minor (J. S. Bach), Monteverdi Choir. The Englisch Barocque Soloists – John Eliot Gardiner

26.06.2015
Pfarrer Hans-Jürgen Benedict