Nes Ammim – Zeichen für die Völker

Am Sonntagmorgen
Nes Ammim – Zeichen für die Völker
Ein überraschender Ort in Israel
16.10.2016 - 08:35
04.07.2016
Pfarrer Reiner Stuhlmann

Über die Sendung

Als im Süden Israels Raketen- und Bombenalarm das Leben bestimmten, spielten im Schatten der Bäume Nes Ammims jüdische und palästinensische Kinder miteinander. Das hebräisch-arabische Sommerlager ist ein Beispiel für den vielfachen Dialog, der die Hoffnung auf Frieden nährt. Europäische Freiwillige betreiben in Nes Ammin eine Begegnungsstätte und gewinnen ein neues, eigenes Bild von Israel und Palästina. Sie üben quer zu den Fronten ein Leben in doppelter Solidarität.

 

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Als vor zwei Jahren im Süden Israels Raketen- und Bombenalarm das Leben bestimmten, spielten im Norden im Schatten der Bäume von Nes Ammim jüdische und palästinensische Kinder miteinander. Begleitet von jüdischen und palästinensischen Jugendlichen im Alter der Soldaten. Das hebräisch-arabische Sommerlager ist ein Beispiel für den vielfachen Dialog, der die Hoffnung auf Frieden nährt. Europäische Freiwillige betreiben hier in Nes Ammim im Norden Israels eine Begegnungsstätte und gewinnen ein neues eigenes Bild von Israel und Palästina. Sie üben quer zu den Fronten ein Leben in doppelter Solidarität. Ich frage nach den Erfahrungen der Freiwilligen.

 

Nina: Und gerade diese Dialogarbeit in Nes Ammim zu sehen, ist für mich ein Geschenk, weil man dadurch weiß, dass es doch irgendwo ne Zukunft gibt, die ein bisschen rosiger aussieht als das, was wir jetzt gerade zu sehen bekommen. Das ist für mich der wichtigste Teil der Dialogarbeit, wenn man früh als Kind schon diesen Dialog zwischen den Menschen mitbekommen hat. Und ich glaube, das ist eine der Ideen in Nes Ammim, die ich am schönsten finde, weil da man einfach sehen kann, wie die Kinder einfach Kinder sind.

 

Diesen Dialog entdecken die Freiwilligen auch außerhalb von Nes Ammim.

 

Nina: ...als wir in Sachnin waren, einer unserer arabischen Nachbarstädte, muslimisch geprägt, wo wir eine Schule besucht haben. Und wir sollten gerade zum Gespräch beim Schulleiter antreten und sind in sein Büro gekommen. Uns hat begrüßt Rabbi Or, einer unserer jüdischen Rabbis, mit denen wir arbeiten. Und er stand dort und hat uns ganz fröhlich erzählt, dass sie gerade an einem Projekt arbeiten, in dem sie jüdische und arabische, muslimische und christliche Kinder in der frühen Schulzeit – es war ne Grundschule – die Kinder zusammenbringen wollen und mit ihnen Projekte starten wollen, in denen sie zusammen arbeiten – genau das, was wir in Nes Ammim unterstützen.

Das war sehr witzig, weil es einem zeigt, wie vielfältig doch die Beziehungen auch sind und wie vielfältig sie auch sein müssen, um diesen Dialog voran zu bringen.

 

Zusammenzuleben und an diesem Dialog zu arbeiten, das ist Alltag in Nes Ammim, auf den sich die sehr unterschiedlichen Freiwilligen einlassen.

 

Alois: Ich war 30 Jahre in einer Bank tätig. Und nun möchte ich andere Dinge machen, auch sinnvolle Dinge. Und deshalb kam mir der Gedanke, hier in Nes Ammim mich zu engagieren.

 

Sybille: Wir haben verschiedene Aufgaben erfüllt. Wir haben gearbeitet in der Küche, in dem großen Speiseraum des Hotels. Wir haben Hotelzimmer sauber gemacht und im Garten gearbeitet, was mir sehr gut gefallen hat.

 

Alois: Ob man Geschirr wäscht oder im Dialogprogramm mitarbeitet oder im Church Service, jede kleine Tätigkeit hat ihren Sinn.

 

Sybille: Was ich jedem, der noch munter ist und gut auf den Beinen, raten kann, ist dieses Leben gemeinsam mit jung und alt. An einem Tisch zu sitzen, die Probleme zu besprechen, im Dialog zu sein unter dieser Idee „Leben zusammen in einem christlichen Kibbuz“.

 

Alois: Man bleibt mit ihnen jung. Ich finde das ist eine gute Kombination, dass auch wir Älteren von den Jungen inspiriert werden und wir nicht auf unseren eingefahrenen Wegen stehen bleiben, sondern auch eine gewisse Weiterentwicklung mitmachen auch in unserem Alter.

 

Rebecca: Man lernt auch richtig viel von den älteren Leuten. Die bringen so ne bestimmte Ruhe rein, in ner gewissen Art und Weise auch ne Weisheit, die wir Jüngeren noch nicht haben.

 

Marton: Viele der älteren Volontäre waren auch schon einige Jahre vorher in Nes Ammim. Ich fand das sehr interessant, sie zu fragen: „Wie war Nes Ammim damals vor 20 Jahren?“

 

Doro: Ich bin vor über 20 Jahren als Volontärin hierhergekommen und 6 Jahre geblieben, später nochmal ein Sabbatjahr hier geleistet und habe zwischendurch Nes Ammim immer wieder regelmäßig für kürzere und längere Zeit besucht und alle meine Urlaube arbeitend hier verbracht. Das bereue ich bis heute auf gar keinen Fall. Ich muss allerdings sagen, dass es mich mit großer Sorge erfüllt, zu sehen, dass vieles, was es an guten Traditionen gab, droht verloren zu gehen. Ich wünsche und hoffe für Nes Ammim, dass es Freiwillige geben mag, die kommen und die lange genug bleiben, um diesen Platz sich weiter entwickeln zu können.

 

Alois: In Nes Ammim ist das Besondere, dass man ein hervorragendes Studienprogramm hat und ganz andere Horizonte sich auftun, die man sonst als normaler Tourist nicht erleben kann.

 

Nina: In der Zeit, die ich hier bin, habe ich extrem viel über mich gelernt, über mein Verhältnis zu anderen Menschen und darüber wie ich mit anderen Menschen umgehen muss.

 

Viele Freiwillige kommen aus Deutschland. Als Deutsche in Israel – das ist unproblematischer als viele meinen.

 

Rebecca: Wenn man halt jemand kennen lernt und gefragt wird: „Was machst du? Wo kommst du her?“ und man sagt: „Ja, ich komme aus Deutschland“ „Waaas, aus Deutschland? War ich auch schon. Ich will da unbedingt wieder hin.“ Deutschland ist eigentlich ziemlich angesagt hier in Israel und ich finde das unglaublich bemerkenswert und ich find’s so schön, dass das nur 70 Jahre nach Kriegsende dass die jungen Leute sagen: „Hey, wir wissen, was passiert ist, aber wir haben Frieden geschlossen mit dem, was geschehen ist, und wir freuen uns darauf, dass wir Freunde in Deutschland haben.“

 

Eine der Grundideen von Nes Ammim seit seiner Gründung vor 53 Jahren ist es, ein Lernort zu werden für ein erneuertes Verhältnis zum Judentum. Statt Juden zu missionieren heißt es in Nes Ammim programmatisch „Von Juden lernen“. Das fängt natürlich bei der Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte an. Wenn die Gedenkfeier für die Kristallnacht vorbereitet wird… oder mit ganz persönlichen Erfahrungen…

 

Marton: Zum Beispiel bei einer Begegnung mit zwei Holocaust-Überlebenden. Die haben sich dann halt gefreut, dass zwei deutsche Volontäre vorbei kommen und das Gespräch mit ihnen suchen.

 

Rebecca: Wir hatten hier Jom HaShoa, das ist der israelische Holocaust-Gedenktag. Bei uns ganz in der Nähe ist eben Lohamei HaGeta'ot, das ist der Kibbutz der Kämpfer des Warschauer Ghettos. Und da ist eben ne sehr große Gedenkzeremonie. Also es war sehr sehr bewegend an dem Abend, als dann die Nationalhymne gesungen wurde und alle eben aufgestanden sind, da fand ich die einfach nur schön und richtig – und wichtig, dass das Land existiert.

 

Miriam: Wir haben das Judentum in Nes Ammim kennen gelernt. Besonders gut hat mir der Vortrag über Sukkot gefallen, weil deutlich wurde, wie lebendig die jüdische Religion ist. Wir haben ein kreisrundes Gebäude gebaut aus Holz und Palmwedel als Dach gelegt, so dass wir am Abend, als wir in der Sukka saßen, die Sterne beobachten konnten. Dadurch wurde mir bewusst, dass Religion etwas Lebendiges ist, etwas, was man leben muss, was wir anfassen können, was wir gemeinsam erleben können. Eine jüdische Tradition ist es, am Freitagabend ein traditionell familiäres gemeinsames Abendessen zu haben. Auch wir in Nes Ammim zelebrieren diesen Abend des Schabbats, mit traditionellen Gebeten auf Hebräisch, vielen schönen Liedern und Musik, Zünden der Kerzen, dem Brechen des Brotes und der Segnung des Weines. Es ist das Ereignis der Woche, an dem alle Volontäre zusammen kommen. Das gemeinsame Erleben, das Zusammensitzen und das Feiern des Glaubens in lebendiger Art und Weise ist für mich Judentum.

 

Für Freiwillige aus Europa, die in der dritten Generation ohne Kriegserfahrung aufwachsen, ist das Leben in Israel, das von allen Seiten bedroht ist, gewöhnungsbedürftig...

 

Alois: Ich war jetzt gerade in den Golan-Höhen und in der Nacht – ich habe draußen übernachtet -, hört man den Kanonenhall rüber von Syrien. Man weiß hier ist ganz nahe Krieg. Und auf der anderen Seite ist das pralle Leben.

 

Freilich sieht das „pralle Leben“ in diesem Land anders aus als in Europa.

 

Nina: Am Jom HaSiqaron auf dem Soldatenfriedhof zu sein, ist ein sehr spezielles Erlebnis, weil man auf der einen Seite verstehen kann, dass die Leute immer wieder darauf pochen, dass Sicherheit das Wichtigste ist, auf der anderen Seite, wie son Gedenkfeiertag so hoch gebauscht wird, dass man gar kein anderes Gefühl außer „Wir müssen unsere Sicherheit verstärken“ bekommen kann.

 

Die politische Situation spielt für das Leben in Nes Ammim eine große Rolle. Neben den lokalen Dialoggruppen, denen die Möglichkeiten des Dorfes für ihre Arbeit zur Verfügung stehen, lernen die Freiwilligen auch die irritierenden Seiten des Landes kennen. Neutral ist nur der Ort, der Juden wie Palästinensern offen steht. Parteilich ist die Arbeit in Nes Ammim insofern, als dass auf beiden Seiten die unterstützt werden, die sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Dazu gehört, notorisch die Grenzen zu überschreiten, um immer wieder die Position der anderen kennen zu lernen. Dazu gehören auch zahlreiche Besuche in den Besetzten Gebieten. Das verändert die Sichtweise der Freiwilligen aus Europa.

 

Rebecca: „Armes Israel und Palästinenser sind böse“. Das war eher das Bild, das ich hatte. Und jetzt wo ich dann hier… Ich find’s einfach falsch, wie ein Volk hier behandelt wird, Palästinenser. Trotzdem muss man auch sagen, dass es auch für Israel nicht immer einfach ist.

 

Alois: Ich war in den Besetzten Gebieten. Vor zwei Jahren bei unserem Westbank Seminar konnte ich sogar bei einer palästinensischen Familie zwei Nächte verbringen und habe dort ganz hautnah mitbekommen, wie die Familie lebt, was sie denkt, was sie erlebt.

 

Gerade durch persönliche Begegnungen gewinnen die Freiwilligen eine kritisch-differenzierte Sichtweise auf beide Seiten.

 

Rebecca: Es gibt ja dies Motiv mit diesem „Wir behalten unseren Schlüssel, damit wir zu diesen Wohnungen zurück gehen können, die unsere sind.“ Dass die eben immer noch da dran hängen und sich nicht vorwärts bewegen und auch nicht vorwärts bewegen wollen. Ich glaub es hängt auch ganz arg mit so ner Sturheit zusammen. Das fand ich irgendwie traurig. Du hast ein Leben und du kannst entweder den ganzen Tag dasitzen und sagen „Ok. Ich bin ein Flüchtling und man hat mir alles weggenommen.“ Oder man kann sagen: „Mein Vater war ein Flüchtling, aber jetzt auch wenn’s nicht einfach ist, werde ich machen, was ich kann und auch meinen Kindern ein neues gutes Leben zu ermöglichen.“

 

Es gibt zahlreiche Begegnungen mit jüdischen Menschenrechtsgruppen in Israel, unter denen einige die Freiwilligen besonders beeindrucken.

 

Nina: Zwei Organisationen, und wo ich sagen würde, das ist extrem wichtige Arbeit auch für den Staat Israel. Die Organisation „Breaking the Silence“, die ganz klar zeigt, wo die Probleme mit der Besatzung und der Armee genau liegen und die Organisation „MachsomWatch“, die einem zeigt, wo die Probleme an den Checkpoints sind und wie wichtig es ist, dass es Menschen gibt an den Checkpoints, die sich die Arbeit der Soldaten auch angucken.

 

Miriam: „Breaking the Silence“ macht Führungen durch Hebron durch die Geisterstadt der jüdischen Siedlungen in der Mitte im Herzen von Hebron. Es wird sehr deutlich, was Besetzung für Palästina und die Palästinenser heißt.
Sie kämpfen für die Menschenrechte der Palästinenser. Ich sehe die Mitglieder von Breaking the Silence nicht als Verräter Israels, weil sie Israel unterstützen.

 

Immer sind es besondere Eindrücke, die Freiwillige aus ihrer Zeit in Nes Ammim mit nach Hause nehmen.

 

Rebecca: Was mir auf immer und ewig in Erinnerung bleiben wird, ist das Negev-Seminar. Wir waren für drei Tage im Negev, in der Wüste. Wir haben draußen geschlafen unter den Sternen. Weil du eben in der Wüste bist, war einfach nur Sternenhimmel. Es war auch sehr kalt, aber es war wunderschön. Da merkt man so richtig, wie klein man ist, aber trotzdem, dass man eine Bedeutung hat.

 

Miriam: Ich fahre klüger nach Hause, weil ich sehr viel gelernt habe, vor allem durch Gespräche mit allen Menschen, die ich hier getroffen habe. Aber ich fahre auch mit sehr vielen Fragen nach Hause: Gibt es Gerechtigkeit? Und was ist Gerechtigkeit?

 

Doro: Die Erfahrungen, die ich machen konnte, waren für mich so wichtig und so bereichernd, dass ich wünsche, dass noch viele andere Menschen jetzt und in der Zukunft gleiche und ähnliche Erfahrungen machen können.

 

 

Musik dieser Sendung:

Hawana, Amal Murkus, Nassim Dakwar & Rafi Kadishzon & Amal Murkus

04.07.2016
Pfarrer Reiner Stuhlmann