„Nüchtern, logisch, konsequent“

Am Sonntagmorgen
„Nüchtern, logisch, konsequent“
Eine Geschichte zum Advent
11.12.2016 - 08:35
04.07.2016
Arnd Brummer
Buch zur Sendung

Arnd Brummer, 24 Geschichten zum Advent.

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Er hatte es angegeben! Ganz wahrheitsgetreu. Susanne wusste es von Anfang an. Und all die anderen Frauen, die sein Profil bei Hearts & Minds angeklickt hatten, hätten sich auch nicht beschweren können. Da stand: Paul, 46 Jahre alt, kinderlos, Atheist.

Er hätte es sich ganz einfach machen und den entsprechenden Menüpunkt schlicht überspringen können. „Keine Angabe“ wäre dann in der Zeile „Religion“ aufgetaucht. Doch das hätte einfach nicht Pauls Charakter wiedergegeben.

 

„Mitleidlos ehrlich“ hatte ihn seine Exfrau beim Scheidungstermin genannt. Elfi hatte das keineswegs positiv gemeint. Paul hatte es als Anerkennung empfunden. Jawoll. Mitleidlos ehrlich – das hieß für Paul: auch ohne Selbstmitleid. Ein Mathematiker, der sich und andere im Unklaren ließ, das konnte gar keiner sein.

Wenn schon die Grundannahmen nicht stimmten, dann konnte es nur unrichtige Ergebnisse geben. Dieser ganze Schmus, dieses ganze Getue, diese allgemeine Verlogenheit in den Medien wie in den persönlichsten Begegnungen, die führten zu einer Gesellschaft, wie sie Paul vorfand, wenn er ausnahmsweise mal in eine Zeitung schaute oder den Fernseher einschaltete. Schon an der Uni – nein, schon in der Schule, nein, schon in seiner Familie war ihm das so was von auf den Geist gegangen. Dieses ganze Gesülze und Gejammer, die Lobhudelei und das Schultergeklopfe – furchtbar, entsetzlich! Spätestens als Fünfjähriger hatte Paul gewusst, er wollte anders leben. Ehrlich, geradlinig, sauber.

 

Gerade jetzt wieder, im Advent, war es einfach grauenhaft, was die Leute einander vormachten. Diese Lieder! Glocken mit heiligem Klang klingen die Erde entlang – Schwachsinn! Man musste doch nur Nachrichten sehen.

Und dieses Weihnachten, eine Riesenshow – in den Herzen wird’s warm. Blanker Unsinn. Wie war es denn gewesen, bei ihm zu Hause? Mutter buk diese ganzen Plätzchen und Stollen und Linzer Torten. Der reine Stress. Sie war nur gereizt. Den ganzen Advent. Jeden Heiligen Abend wurde im Hause Sulzbacher bis zuletzt geputzt, aufgeräumt und gestritten. Der Weihnachtsbaum, den Vater in letzter Minute anschleppte, gefiel Mutter nie. Dann war der Alte sauer und schrie aus nichtigem Anlass die Kinder an. Birgit und Theo schien das offenbar nichts ausgemacht zu haben. Die machten heute in ihren Familien das gleiche Programm wie damals.

Theo! Wenn er nur an seinen älteren Bruder dachte, diesen Schauspieler und Angeber, das Kotzen kam ihm über Jahre hinweg hoch. Heute, Gott oder wem auch immer sei Dank, empfand er für diesen Typen nur noch kalte Verachtung.

Wenn die Kerzen angezündet waren und das kleine Glöckchen zur Bescherung klingelte, setzten die Sulzbachers ihr Weihnachtsgesicht auf. Plötzlich sollte in dieser Mimikry der ganze Ärger, die ganze Hektik vergessen sein. Vater griff zur Geige und spielte Weihnachtslieder.

Mutter sang volltönend wie eine Operndiva, Birgit hell und falsch. Dann nahm Theo die Familienbibel und las die Weihnachtsgeschichte. Gekonnt, das immerhin musste man ihm lassen, sicher im Text, mit diesem seltsamen weihevollen Unterton, den er immer noch draufhat. Als Kleinstadtbürgermeister kommt ihm dieser Sound sicher zugute. Dieses verlogene Aas!

Paul sah auf die Uhr. Halb neun. Irgendwann musste Susanne jetzt von ihrer Einkaufstour nach Hause kommen. Er überlegte kurz, ob er sich aus dem Staub machen sollte. Sie würde sicher sofort wieder mit sanfter Stimme anfangen, ihn in eine Diskussion über die Gestaltung der Feiertage zu verwickeln. Ob man nicht doch…...

Nein, ohne ihn. Wenigstens festlich essen gehen…. Sie wusste doch, er hatte zu tun! Oder ins Konzert? Oder sich mit den McPhearsons treffen? „Die sind doch Briten. Bei denen ist Christmas einfach Party. Und sie haben uns eingeladen, obwohl sie wissen, dass du dir aus Weihnachten nichts machst!“

 

Susanne verstand einfach nicht, wollte nicht verstehen, dass er konsequent bleiben wollte. „Weihnachten“, hatte er ihr gestern gesagt, ist ein Fest für Religiöse, „also existiert es für mich nicht. Ich werde die Zeit nutzen und Fachliteratur lesen. Oder ich werde mich an meinen PC setzen und das liegengebliebene Zeug der anderen aufarbeiten, die seit Wochen wegen dieses Fests nicht mehr zurechnungsfähig sind und alles verschludern. Wir wollen diesen Auftrag aus Zürich. Und da gibt es noch eine Menge zu programmieren. Wir haben mindestens zwei Wochen Rückstand, schätze ich.“

Irgendwie hatte er sich in Susanne getäuscht, was ihn ärgerte. Oder sie hatte ihm, als sie vorschlug zusammenzuziehen, die Wahrheit nicht gesagt, was ihn entsetzte. Bevor er ihr damals im März die erste E-Mail geschrieben hatte, hatte er sich ihr Profil bei Hearts & Minds genauestens angesehen. In keiner ihrer Angaben war zu erkennen gewesen, dass sie sentimental war. Da gab es eine Zeile: Sind Sie romantisch? Sie hatte eingetragen: Nicht besonders. Zugegeben, das war nach den Maßstäben der binären Logik unscharf. Aber bei Religion hatte sie geschrieben: keine. Eindeutig! Hätte er bei ihrer Berufsangabe stutzen sollen? Chemikerin. Chemiker, davon war er inzwischen überzeugt, hatten von allen Naturwissenschaftlern, die er kannte, die stärkste Neigung zu irrationalen Ausfällen. Noch schlimmer als Astro- oder gar Quantenphysiker. Die waren ihm schon suspekt. Zumindest jene, die behaupteten, Urknall- und Evolutionstheorie ließen sich mit der Genesis in der Bibel in Übereinstimmung bringen. Idiotisch.

 

Paul hatte extra ein Entscheidungsdiagramm angelegt, bevor er den Kandidatinnen aus der Kontaktbörse geantwortet hatte. Und da war Susanne mit 19,3 von 20 möglichen Punkten eindeutig vorne gelegen. Jennifer, die Neurobiologin, wäre vielleicht besser gewesen. Er hatte ihre Angabe, sie lese Romane, möglicherweise mit einem zu strengen Punktabzug bestraft. Immerhin hatten sie sich ja getroffen und auch miteinander geschlafen. Der Sex war übrigens gut. Als sie aber auf dieses seltsame Hobby zu sprechen gekommen waren, hatte sie ihm von einem gewissen John Updike vorgeschwärmt und einem Buch namens „Gottesprogramm“ oder so ähnlich. Ob er das nicht mal lesen wolle? „Nee“, hatte er geantwortet, „was interessieren mich die Probleme anderer Leute und dann auch noch erfundene? Ich lese nur Fachliteratur.“ Da hatte Jennifer nur wehmütig gelächelt. Er wusste: Das war’s. Eigentlich blöd, dachte er sich jetzt. Lesen war eine stille und nach innen gerichtete Beschäftigung. Das störte eigentlich nicht. Man hätte nur vereinbaren müssen, dass sie ihn mit ihren „Lesefrüchten“, wie sie es nannte, in Ruhe ließe. Aber was soll’s, stoppte er seine Überlegungen, vorbei ist vorbei. Susanne jedenfalls hatte ganz anders auf ihn gewirkt. Vernünftig, illusionslos, mit beiden Beinen in der realen Welt stehend. Sie hatte über ihren Ex erzählt, einen Sänger. Ein schräger Typ. Paul hatte ihn vor ein paar Wochen in der Stadt kennengelernt. Na, zumindest hatte Susanne sie einander vorgestellt, als sie in der Fußgängerzone zufällig fast übereinander gestolpert waren. Sah genauso aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte. So hochstehende Locken. Sicher toupiert, war es ihm in den Kopf geschossen. Dieser Musiker also, Susannes Ex – Rainer hieß er – hatte sofort losschwadroniert, dass er „so im Stress“ sei, weil er acht Aufführungen des Weihnachtsoratoriums bis zum Fest absolvieren werde.

„Kenn’ ich nicht“, hatte Paul nur gemeint, mitleidlos ehrlich eben. Das heißt: genau genommen, nicht ganz ehrlich, wie er wenigstens gegenüber sich selbst zugeben musste. Zu Hause hatten sie das sicher auch auf Platte gehabt, erinnerte er sich dunkel.

 

„Rainer war schrecklich“, hatte Susanne bei ihrem ersten Date erzählt. „Er hat eine tolle Bassstimme. Drei Wochen vor einer Premiere hörte er auf zu reden. Er flüsterte nur noch. Ich habe im Internet jede erreichbare Studie downgeloadet, um ihm zu beweisen, dass das vollkommen irrational ist. Erkälten kann man sich nicht. Man kann sich höchstens einen Infekt einfangen. Es hätte genügt, wenn er Plätze gemieden hätte, wo er auf viele Menschen getroffen wäre.“ Klar, nüchtern, logisch. Nicht zuletzt diese Geschichte hatte ihn vollends davon überzeugt, dass Susanne genau die Richtige sei. Und jetzt das! Weihnachten! Paul hatte Susanne angeboten, einfach ohne ihn zu feiern, zu ihren Eltern zu fahren oder zu den McPhearsons zu gehen. Susi hatte ganz traurig geschaut und mit Hasenmäulchen geflüstert: „Das kann ich nicht. Ich möchte mit dir zusammen sein an unserem ersten gemeinsamen Fest der Liebe. Ich liebe dich, Paul!“ Ratlos, wehrlos hatte ihn das gemacht. Fest der Liebe. Er hatte sie einfach in den Arm genommen und geküsst, und dann waren sie zu Bett gegangen. Gestern. Als sie vor dem Einschlafen noch einmal davon anfangen wollte, hatte er nur gesagt: „Lass’ uns das jetzt nicht ausdiskutieren, Schatz.“ Dann waren sie eingeschlafen. Und heute Morgen war er schon aus dem Haus, als Susanne aufwachte. Sie hatte ein paar Tage Urlaub abzufeiern und er wollte sich die neuesten Daten aus Zürich möglichst so früh auf den Rechner holen, dass er für das Meeting um zehn alles parat hatte. Er war ein Pflichtmensch. Jawoll.

Also was tun? Verschwinden? Die Beziehung beenden? Oder Weihnachten feiern? Mit den McPhearsons Party machen? Das Leben war grausam. Vor allem für Leute wie ihn, die konsequent bleiben wollten.

 

Als er den Schlüssel im Schloss drehen hörte und Susi wenig später im Flur stand, mit von der Kälte geröteten Wangen ihren Mantel auszog, bemerkte Paul, dass sein Herz schneller schlug. Einen kleinen Augenblick lang versuchte er, dieses komische Gefühl zu analysieren. Aber da hatte ihn Susanne schon an sich gezogen und schenkte ihm einen so aufregenden Kuss, dass er wusste: Ich habe verloren. Oder besser: Ich will sie nicht verlieren. Und notfalls feiere ich eben mit ihr. Vielleicht bei den McPhearsons. Denn bei den Briten ist Christmas einfach Party. Als sie so umschlungen im Flur standen, sagte Susanne: „Ich habe übrigens bei den McPhearsons gestern schon für uns beide zugesagt.“

 

Bevor er seinen berühmten zweifelnden Blick richtig aufsetzen konnte, setzte sie hinzu: „Ein rationaler Mensch wie du, dachte ich, wüsste abzuwägen, was ihm die größeren Probleme bescheren würde. Kosten-Nutzen-Analyse, Risiko-Abwägung. Ich wusste, ich bin’s dir wert. Und deshalb habe ich dich so gern: Du bist ein durch und durch berechenbarer Typ. Oder habe ich mich geirrt?“

04.07.2016
Arnd Brummer