Suche nach zerstörtem Leben

Suche nach zerstörtem Leben
Eine Historikerin untersucht den Armeniermord
15.11.2015 - 08:35
26.06.2015
Gunnar Lammert-Türk

Hacik Rafi Gazer: Es ist eine wunderschöne Gegend, wo die gelebt haben, wunderschöne Gärten und Felder. Es war eine großartige Begegnung, allerdings es war auch ein sehr frustrierendes Erlebnis, weil es gibt kaum Spuren. Bis auf eine Schule in dem Dorf Igdeli, aber alles andere ist weg. In dem Dorf meines Großvaters hat ein Mann gewusst, woher wir kommen, sagte, ja, ich zeige Ihnen noch dieses und jenes. Wir fuhren noch mal zwei Kilometer außerhalb des jetzigen Dorfes und er zeigte weit und breit, wo die Armenier gelebt haben. Es wächst überall Weizen, es ist alles grün, es gibt kaum eine Spur.

 

 

Hacik Rafi Gazer war in diesem Frühjahr in der Türkei, im Norden Kappadokiens, wo die Eltern seines Vaters einmal gelebt haben. Sie waren Armenier wie er. Christen und Teil eines Volkes, das auf die längste Tradition christlicher Geschichte stolz ist. Vor hundert Jahren mussten sie ihre Dörfer verlassen, meist mit tödlichem Ausgang. Dem Großvater gelang es, zu fliehen und sich in Wäldern und Bergen zu verstecken. Als er nach drei Jahren in sein Dorf Cocradan zurückkehrte, waren die Eltern und seine Frau nicht mehr dort. Nur seine kleine Tochter fand er. Er heiratete erneut, und es kamen noch drei Kinder zur Welt. 1928 zog er nach Istanbul. Seinem Enkel hat er von den erfahrenen Grausamkeiten nichts erzählt. Und wo er lebte, ist alles Armenische verschwunden. So hat Hacik Rafi Gazer kaum etwas, was an die alte Heimat des Großvaters erinnert. Bis auf eins:

 

Hacik Rafi Gazer: Meine Großeltern waren sehr fromme Leute. Und jeden Morgen standen sie auf, haben lange gebetet. Und mit den Jahren merkte ich, dass meine Großeltern nur das mitgenommen haben aus ihrem Ort, was ihnen die Kirche bedeutete und mitgegeben hatte. Das kann man auch bei den Namen von meinem Vater und von meinem Onkel sehen, oder auch von meiner Tante. Meine Tante heißt Shnorhig, das heißt übersetzt die Gnade. Mein Onkel heißt Kyrakos, Cyriakos, Tag des Herrn, das ist der Sonntag sozusagen, die Bezeichnung im Griechischen, und mein Vater hieß Lazarus. Ich hab festgestellt, dass diese zwei Namen aus den Kirchen zu den Dörfern, in denen meine Großeltern gewohnt haben, gehören.

 

 

Diese Kirchen gibt es nicht mehr. Die über 2500 Kirchengemeinden sind bis auf wenige Reste im Zuge des armenischen Völkermords vernichtet worden und so auch fast alles, was zu ihnen gehörte. Hacik Rafi Gazer, der Professor für Geschichte und Theologie des christlichen Ostens ist, forscht auch über die armenischen Kirchen. Zum Studium nach Deutschland hat ihn einer ihrer Führer geschickt, der Patriarch der Armenisch-Apostolischen Kirche von Konstantinopel Shenork Kaloustian. Er stammte aus dem Dorf Igdeli, in dem die Mutter von Hacik Rafi Gazers Vater gelebt hatte und hat in einem Tagebuch von diesem Dorf erzählt. Tagebücher gehören zu den wertvollen Zeugnissen, nach denen Hacik Rafi Gazer immer auf der Suche ist. Von den Eltern seines Vaters fehlen ihm solche Zeugnisse.

 

Hacik Rafi Gazer: Aber meine Mutter gibt es ja auch, und da gibt es auch Großeltern, und da habe ich Spuren, die in Istanbul zuhause waren, gefunden, nämlich ein wunderbares Foto, wo meine Groß-mutter als Pfadfinderin abgebildet ist.

 

 

Fotos, Tagebücher, Briefe, Gegenstände des täglichen Lebens aus Handwerk, Handel, Landwirtschaft, Medizin, Religion und Kultur – nach all dem forscht Hacik Rafi Gazer.

Das tut auch die deutsch-armenische Historikerin Elke Shoghig Hartmann. Weltweit sammelt sie solche Zeugnisse, wertet sie wissenschaftlich aus und dokumentiert sie, um armenisches Leben im osmanischen Reich vor der Vernichtung zu beschreiben. Sie erschließt so auch die Lebenswege von Armeniern, wie den von Chatschadur Effendi Bastermadschian.

 

Elke Shoghig Hartmann: Chatschadur Effendi Bastermadschian ist der Sohn eines Metzgermeisters, eines Schlachters, der das Geschäft seines Vaters übernimmt und baut das aus, wird also vom Schlachter zu einem Fabrikanten von Dörrfleisch. Und im Laufe der Zeit wird einer seiner wichtigsten Abnehmer die Armee, das heißt, er wird zu einem der wichtigsten Versorger für die örtliche Garnison und für die in Erzurum und um Erzurum stationierten Truppen mit Dörrfleisch.

 

 

Chatschadur Effendi Bastermadschians Aufstieg vollzieht sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine harte Zeit für das osmanische Reich. 1839 konnte seine Einheit in einer schweren inneren Krise nur durch europäische Intervention gewahrt werden. Die Regierung beschließt daraufhin eine seiner Tradition und Kultur gemäße islamkonforme Modernisierung. Als dem osmanischen Reich wenige Jahre später im Krimkrieg mit Russland England und Frankreich zu Hilfe kommen, hat dies einen folgenschweren Preis: Europäische Berater sitzen mit am Verhandlungstisch und tragen ihre Vorstellungen in ein neues Reformdekret ein.

 

Elke Shoghig Hartmann: Dieses Hatt-i Hümayun von 1856 formuliert Versprechen, die kein Osmane freiwillig je gege-ben hätte, die nämlich den Grund der islamischen Tradition verlassen, indem sie Muslimen und Nichtmuslimen Gleichstellung versprechen. Das ist ein ganz klarer Bruch mit der islami-schen Tradition, das stand nie auf der Agenda irgendwelcher osmanischer Reformer, jeden-falls nicht in ihrer Mehrheit, es war überhaupt nicht durchsetzbar im osmanischen Reich, aber das war eine Forderung der europäischen Bündnispartner und deswegen ist es da mit rein gekommen.

 

 

Ein ruhiger Reformprozess, orientiert an den osmanischen Eigenheiten, war so nicht mehr möglich. Elke Shoghig Hartmann befasst sich mit diesen Fragen, um die Aspekte zu ergründen, die mit in die Katastrophe des Genozids geführt haben. So erzwingen die europäischen Verbündeten die Öffnung der osmanischen Märkte. Das osmanische Reich wird mit Fertigwaren überflutet und zum Rohstofflieferant, während eigene Manufakturen nicht mehr konkurrenzfähig sind. Ein Vorgang, wie er heute Ländern der Dritten Welt oft widerfährt. Für ihre Reformideen finden die Europäer Mitstreiter bei den unterprivilegierten Minderheiten, vor allem bei den Armeniern. In der ihnen gewährten Organisationsform als Millet, als anerkannte Religionsgemeinschaft, waren sie eingeschränkt. Zugleich hatten sie in dieser Sonderexistenz spezielle Fertigkeiten erworben. Ihr Bildungsstand war unter anderem durch die Missionsschulen höher als in der muslimischen Bevölkerung und durch Kontakte zu Gemeinden in der Diaspora hatten sie auch besondere Sprachkenntnisse erworben, …

 

Elke Shoghig Hartmann: … so dass alles, was mit neuen Wirtschaftsformen, neuen Produktionsformen, neuen Berufs-feldern, neuen Techniken zu tun hat, überproportional von Minderheiten wahrgenommen wird. Das heißt, all die Fertigkeiten und Bildungsinhalte, die gebraucht werden für die Moderne, die sind in den Minderheitengruppen und gerade bei den Armeniern besonders vertreten.

 

 

Die Armenier hoffen auf eine Erweiterung ihrer Rechte durch die verlangten Reformen. Die arme muslimische Bevölkerung, auch viele Kurden hingegen fürchten, Verlierer der Modernisierung zu werden. Zu ihnen gehören im Armeniergebiet in Ostanatolien auch Muslime, die vor der Drangsal im angrenzenden Russland geflohen sind. Sie werden in der Nähe bestehender Ortschaften angesiedelt ohne Lebensgrundlage und halten sich deshalb mit Raub und Plünderung über Wasser. Die Armenier nutzen ihre kirchlichen Strukturen und beschweren sich. Der Patriarch in Istanbul bringt die Beschwerden vor die osmanische Regierung. Zunächst wird nichts gegen die Gewalt unternommen. Aber nachdem das Osmanische Reich im nächsten Krieg mit Russland vernichtend geschlagen wurde, legen die beteiligten europäischen Mächte im Berliner Vertrag von 1878 Reformen und Sicherheitsgarantien für die armenischen Provinzen fest. Im Lauf der 1890er Jahre verlangen sie immer deutlicher, dass die Armenier eine eigene Gendarmerie und lokale Selbstverwaltung erhalten. Mit gegenteiligem Resultat: Sultan Abdul Hamid begegnet dem Druck mit reichsweit organisierten Massakern. Es ist …

 

Elke Shoghig Hartmann: … nicht einfach nur lokaler Unmut gegen die armenische Bevölkerung, sondern der war ent-facht durch bestimmte Aussagen Sultan Abdul Hamids, der nämlich deklariert hat, wenn ihr auf diesen armenischen Reformen besteht, dann kann ich für das Stillhalten meiner muslimi-schen Bevölkerung nicht mehr garantieren und das war nichts anderes als ein Aufruf zum Massaker an den Armeniern, der dann mit Predigten in den Moscheen angestachelt wurde.

 

 

Die Massaker fordern weit mehr Opfer als die alltägliche Gewalt aufgrund instabiler Verhältnisse und sozialer Spannungen. Die Armenier drängen nun massiv auf Gleichstellung, sie verlangen auch die Rückgabe des ihnen während der Massaker geraubten Eigentums. Ihre Hoffnung setzen sie schließlich auf die jungtürkische Bewegung. 1908 stürzen die Jungtürken Abdul Hamid, unterstützt von manchen Armeniern. Aber die als europäisiert angesehenen radikalen Reformer haben kein Interesse, den armenischen Forderungen zu entsprechen. Was sie anstreben, ist die Schaffung eines straff zentralistischen Staates türkisch-islamischer Prägung mit einer rassistisch grundierten türkischen Überlegenheit.

 

 

Nach weiteren drei Kriegen, die das osmanische Reich unter den Jungtürken überstehen muss,

tritt es in den ersten Weltkrieg ein. Und die Hoffnung auf die jungtürkischen Reformer wird zum Albtraum. Eine Hoffnung, die ein halbes Jahrhundert vor dem organisierten Völkermord auch Chatschadur Bastermadschian, der Belieferer der türkischen Armee mit Dörrfleisch, hat. Als bedeutende Persönlichkeit der armenischen Gemeinschaft seiner Stadt baut er ein öffentliches Bad und erwirbt dafür ein Stück Land mit einer Grundwasserquelle von einer muslimischen religiösen Stiftung. Einigen Muslimen geht das zu weit. Sie begehren gegen den Kauf auf, ohne ihn beanstanden zu können. Und Chatschadur Bastermadschian sieht keinen Anlass, von seinem Vorhaben zurück zu treten, zumal er gute Kontakte zur osmanischen Regierung pflegt.

 

Elke Shoghig Hartmann: Das Ende des Liedes ist dann, dass ein Mörder gedungen wird, und dieser Mörder ist nicht durch Zufall ein muslimischer Muhajir, also einer von den ursprünglich muslimischen Einwanderern, die aus dem Kaukasus gekommen sind, die ihn am helllichten Tag auf seinem Besitz erschießt.

 

 

Nicht Religion ist der Motor für Gewalt und Mord, sondern sozialer Neid. Religion wird missbraucht, auch von den Jungtürken in ihrem Ausrottungszug gegen die Armenier.

Sie erstreben eine brutale Homogenisierung, die das Vielvölkergebilde des osmanischen Reiches radikal türkisch ausrichtet. Unter dem nachweislich konstruierten Vorwurf, die Armenier hätten mit dem russischen Feind kollaboriert, wird ihre Vernichtung ins Werk gesetzt. Erst trifft es die armenischen Offiziere und Soldaten, dann werden die meisten armenischen Männer getötet. Frauen, Kinder und Alte werden auf todbringenden Märschen in die mesopotamische Wüste deportiert. Nach der Vernichtung bleibt die Suche nach dem, was das zerstörte Leben vor Augen führen kann, wie sie von Elke Shoghig Hartmann und Hacik Rafi Gazer unermüdlich betrieben wird. Und das Gedenken an die Toten. Dem sich auch die Evangelische Kirche in Deutschland in ökumenischer Verbundenheit verpflichtet fühlt. Am 23. April dieses Jahres hat sie gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Armenisch-Apostolischen Kirche im Berliner Dom an die Opfer des Völkermords erinnert.

Hundert Jahre nach dem Völkermord hat die Armenisch-Apostolische Kirche diesen Tag als Gedächtnistag der Opfer in ihr Kirchenjahr eingeführt.

 

Hacik Rafi Gazer: Es wurden sozusagen 1,5 Millionen Opfer in das Gedächtnis der Kirche aufgenommen. Das hat man mit einem neuen Hymnus, der den Opfern gewidmet ist, mit einer Ikone vorgenom-men mit einem großartigen Gottesdienst. Das heißt, diese Opfer sind zunächst einmal in das Gedächtnis der Kirche aufgenommen und aus dieser Vergessenheitsgefahr gerettet: Möge Gott ihrer gedenken und nicht vergessen und natürlich auch, indem wir diesen Gedächtnisakt tun, dass wir auch die Opfer nicht vergessen.

 

 

Musik dieser Sendung:
(1) Akna Krunk, Esprit d‘ Armenie, Haig Sarikouyoumdjian & Georgi Minassyan

(2) Sirt im sasani, The Music of Armenia I: Sacred Choral Music, The Haissmavourk Choir

(3) Chant et Danse, Esprit d‘ Armenie, Haig Sarikouyoumdjian & Georgi Minassyan

(4) Bats mez ter, The Music of Armenia I: Sacred Choral Music, The Haissmavourk Choir & Karineh Avetissian

(5) Yekyalks, The Music of Armenia I: Sacred Choral Music, The Haissmavourk Choir

26.06.2015
Gunnar Lammert-Türk