Minimalismus

Morgenandacht
Minimalismus
14.03.2015 - 06:35
11.03.2015
Pfarrerin Annette Bassler

 

„Erst wollte ich sterben. Als ich nicht gestorben bin, wollte ich in Rente gehen. Als ich gemerkt habe, dass ich mir Rente finanziell nicht leisten kann, bin ich zurück zur Arbeit. Mit der Ansage: Ab jetzt werde ich weniger arbeiten und Verantwortung abgeben.“

 

So hat ein Freund, Mitte 50, die letzten dramatischen Monate seines Lebens zusammengefasst. Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, musste er beinah an einem Herzinfarkt sterben und einen Monat im Kloster verbringen.

 

Eigentlich hat er es kommen sehen. Dass er sich chronisch überfordert hat. Als Chef seiner Abteilung hätte ihm jeder Unternehmensberater vorbildlichen Führungsstil bescheinigt.

 

Fordern, noch mehr fördern und dabei immer als Vorbild vorausgehen und einspringen, wenn es klemmt. Für alle Schwächen stets verständnisvoll... Nur nicht für seine eigenen.

 

Sein Körper musste erst mit Totalversagen drohen, damit er sich ernsthaft mit den Grenzen seiner Belastbarkeit beschäftigt hat. Weil Grenzen ziehen und Nein sagen für ihn gefühlt immer gleichbedeutend war mit: rausgeschmissen oder nicht ernst genommen werden.

 

Das Erstaunliche ist: Das Gegenteil ist der Fall. Jetzt, wo er klare Grenzen zieht, fliegen ihm Respekt und Mitgefühl in einem Ausmaß zu, mit dem er nie gerechnet hätte.

 

„Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt – Jesus hat einmal gesagt: und ich ergänze, was hilft es, wenn jemand die volle Anerkennung seine Firma gewinnt – und dabei Schaden nimmt an seiner Lebendigkeit.

 

So außergewöhnlich die Geschichte meines Freundes klingt, sie ist in Deutschland durchaus verbreitet. In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl derer, die aufgrund von psychosomatischen Erkrankungen vorzeitig in Rente gehen, nahezu verdoppelt. Das Durchschnittsalter dieser Frührentner liegt derzeit bei 48 Jahren.[1] Das ist die dunkle Seite des leuchtenden Wirtschaftsstandortes Deutschland.

 

Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, nimmt aber doch Schaden an seiner Seele.“ Dass die Seele wichtiger ist als grenzenlose Pflichterfüllung könnte man als Rückzug in die Innerlichkeit missverstehen. Das Gegenteil ist der Fall. Das zeigt die aktuelle Bewegung des sog. Minimalismus 2.0.

 

Gegen das Bekenntnis zum Wirtschaftswachstum setzt diese Bewegung darauf, Ballast abzuwerfen. Im wörtlichen und im übertragenen Sinn.

 

Weg mit allem, was nicht wirklich lebensdienlich ist. Für die einen ist es das Auto, für andere der Fernseher oder neues Mobiliar. Minimalisten reparieren gern oder tauschen Dinge. Und sie verabschieden sich auch von Beziehungen, bisweilen von einem riesigen Bekanntenkreis, der mehr dem eigenen Image als der Lebensqualität dient.

 

Das Leben mag dynamisch, ereignisreich und eine Summe von Herausforderungen sein, die man stolz und mit einem Siegerlächeln auf den Lippen bewältigt.

 

Aber steckt man einmal in dieser Dynamik drin, erkennt man ihren Preis oft erst dann, wenn die Katastrophe sich abzeichnet. Wenn die Ehe am Zerbrechen ist oder das Herz streikt. Wenn die Kinder keine guten Wege gehen oder die Eltern wegsterben ohne dass man seinen Frieden mit ihnen gemacht hat.

 

Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und nimmt doch Schaden an seinem Leben. Meint Jesus. Die Alternative ist nicht einfach. Darauf zu verzichten, die ganze Welt zu gewinnen. Die Angst, rausgeworfen, nicht mehr gewollt zu werden, ist für den Anfang ständiger Begleiter, meint mein Freund.

 

Das Einzige, was er dagegen halten kann, ist sein Vertrauen. Das Vertrauen, dass ein gütiger Vater im Himmel ist, der dafür sorgt, dass sich neue Wege auftun. „Sorgt euch nicht“, hat Jesus gesagt, „seht die Vögel am Himmel. Sie säen nicht, sie ernten nicht. Und der himmlische Vater ernährt sie doch.“ Es ist erstaunlich, meint mein Freund, aber seit ich Minimalist bin, kommt mir das Leben jeden Tag freundlich entgegen.

 

[1] Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer bzw. psychosomatischer Erkrankungen:
2013: 74.745 Neufälle (1993: 41.409) = Steigerung um 80,5%; Durchschnittsalter 48 Jahre. Quelle: Rentenversicherung in Zeitreihen 2014 (Schriftenreihe herausgegeben von der Deutschen Rentenversicherung Bund)

11.03.2015
Pfarrerin Annette Bassler