Das schmerzhaft-schöne Glück des Loslassens

Gottesdienst
Das schmerzhaft-schöne Glück des Loslassens
Gottesdienst aus dem Gemeindezentrum „Arche“ auf dem Quellberg Recklinghausen
31.07.2016 - 10:05
Über die Sendung

„Das schmerzhaft-schöne Glück des Loslassens“ ist Thema des Literaturgottesdienstes aus der „Arche“ in Recklinghausen. Im Mittelpunkt steht der Roman „Die letzten Tage von Rabbit Hayes“. Das humorvolle wie ergreifende Buch berührt die großen Lebensthemen Liebe, Freundschaft, Familie und Tod und bietet damit Anknüpfungspunkte für die biblische Botschaft. Pfarrer Christian Siebold gestaltet den Gottesdienst zusammen mit dem Team für die Literaturgottesdienste, musikalisch unterstützt von der Band ‚MemphisPC‘.

Mit Begeisterung und Kreativität erzählt die Kirchengemeinde Recklinghausen-Ost von Gott, bedenkt die entscheidenden Fragen im Leben und gibt die biblische Botschaft weiter. Sie ist überzeugt, dass das auf vielfältige Weise geschehen sollte, und so haben sich im Laufe der letzten Jahre unterschiedliche Gottesdienstformen in der Gemeinde entwickelt. Zu den neueren Formen gehören der Literaturgottesdienst, der Filmgottesdienst „Auf ein Wort“ und ein von Musik bestimmter Gottesdienst.

 

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Predigttext

Wissen Sie, wie man in Afrika einen Affen fängt? Man legt eine Banane oder eine Nascherei in ein schmales Loch eines Baumstamms. Wenn der Affe das leckere Obststück entdeckt, fasst er in die Öffnung und greift sich die Banane. Jetzt ist die Hand dicker als das Loch im Stamm, und der Affe kann die Hand nicht mehr rausziehen. Er wäre sofort wieder frei, wenn er die süße Frucht losließe. Er will aber nicht loslassen und macht eine Faust um seine stolze Beute. Damit sitzt er fest. So bekommt er seine Hand nicht mehr aus dem schmalen Loch heraus. Niemand hält ihn gefangen. Er beraubt sich selbst seiner Freiheit, weil er nicht loslassen will.

Uns geht es nicht viel besser als dem Affen. Von der Nabelschnur an ist es ein Dauerthema in unserem Leben: das Loslassen. Wir vermeiden es, wo es nur geht. Es ruft unangenehme, bedrohliche Gefühle wach.

Wer sich trennt, so glauben die meisten, ist gescheitert, gibt auf, kämpft nicht mehr. Wer Abschied nehmen muss, von wem oder was auch immer, empfindet Schmerz, fügt zuweilen anderen Kummer zu und gerät aus dem seelischen Gleichgewicht. Zudem erscheint das Neue unsicher. Die meisten haben Angst davor.

Doch Experten sind sich einig: Wer sich nicht trennen kann, riskiert seine Gesundheit. Wer dagegen loslässt, tut sich und anderen etwas Gutes. Loslassen ist eine wertvolle Quelle, die uns hilft, leichter und zufriedener zu leben: Nur mit leeren Händen kann man nach etwas Neuem greifen.

Die Kunst des Loslassens, des Schlussmachens und Abschiednehmens muss man lernen. Familie Hayes in unserem Roman ist unfreiwillig in ein Trainingslager geraten für genau diese Kunst. Sie müssen Abschied nehmen, obwohl sie es alle nicht wollen, und sie müssen in dieser Abschiedsphase auch noch wichtige Entscheidungen für die Zukunft treffen. Erst verweigern sie sich, aber dann stellen sie sich alle dieser schweren Aufgabe - mit Verantwortung und viel Liebe füreinander.

Seit biblischen Zeiten wissen wir, dass alles seine Zeit hat. Dennoch halten wir lieber auch noch den letzten Zipfel krampfhaft fest und versuchen das Ende künstlich aufzuhalten. Ein Zollbeamter aus der Bibel hat uns den richtigen Umgang mit dem Loslassen vorgemacht. Wir hören die Geschichte aus dem 19. Kapitel des Lukasevangeliums:

1 Jesus kam nach Jericho; 2 Zachäus, der oberste Zolleinnehmer, ein reicher Mann, 3 wollte unbedingt sehen, wer dieser Jesus war. Aber es gelang ihm nicht, weil er klein war und die vielen Leute ihm die Sicht versperrten.

4 Da lief er voraus und kletterte auf einen Maulbeerfeigenbaum; Jesus musste dort vorbeikommen, und Zachäus hoffte, ihn dann sehen zu können.

5 Als Jesus an dem Baum vorüberkam, schaute er hinauf und rief: »Zachäus, komm schnell herunter! Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.«

6 So schnell er konnte, stieg Zachäus vom Baum herab, und er nahm Jesus voller Freude bei sich auf.

7 Die Leute waren alle empört, als sie das sahen. »Wie kann er sich nur von solch einem Sünder einladen lassen!«, sagten sie.

8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sagte zu ihm: »Herr, die Hälfte meines Besitzes will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand etwas erpresst habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.

 

Zachäus macht zwei Dinge richtig: Er erkennt, dass es Zeit ist, sein Leben zu verändern und etwas loszulassen, das ihm eigentlich sehr lieb ist und er wird aktiv. Der Mann spürt, dass sein Leben eine neue Richtung braucht. Die Begegnung mit Jesus hilft ihm, seine Erkenntnis umzusetzen.

Wie erkennen wir heute den richtigen Zeitpunkt und wo bekommen wir die nötige Kraft her, etwas loszulassen, was uns lieb und teuer ist? Oft braut sich ein Gefühl in uns zusammen, und wir ahnen, dass Entscheidungen und Veränderungen anstehen. Dann ist es gut, einen konkreten Zeitpunkt festzulegen, an dem man diesen Ahnungen nachgeht und seine Seele entrümpelt: z.B. regelmäßig an einem bestimmten Abend in der Woche, bei einem Sparziergang oder einem gutem Glas Wein, oder ein Wochenende wegfahren, um das in Ruhe zu bedenken, was sich verändern soll. Gespräche mit Freunden oder Verwandten können dabei hilfreich sein. In manchen Situationen ist auch eine professionelle Beratung sinnvoll. Und dann heißt es vielleicht „loslassen“: einen Menschen, einen Ort, den alten Job.

Nach der Entscheidung und dem Abschied folgt unweigerlich die Trauer. Sie ist unvermeidbar und unverzichtbar. Sie gehört dazu. Menschen müssen trauern, um die Folgen einer Trennung bewältigen zu können. Die Trauer richtet unsere Aufmerksamkeit nach Innen und macht es möglich, dass wir den Abschied annehmen und unsere Gefühle und Gedanken neu sortieren. Ein schönes Nebenprodukt des Traurigseins ist außerdem, dass wir Mitgefühl, Zuwendung und Trost von anderen erfahren.

Wer seine Sachen nicht abschließt, wer nicht fertig wird, macht sich auf Dauer selbst fertig. Das Nicht-sterben-Können blockiert mögliches neues Leben. Wenn wir Menschen und Dinge freigeben können, dann gibt’s den Himmel manchmal schon auf Erden. Das gelingt am leichtesten, wenn wir unsere eigenen Grenzen erkennen und annehmen.

Wovon wir uns verabschieden müssen, verändert sich im Laufe unseres Lebens: vom Traumpartner, von der Illusion immerwährender Gesundheit und Jugend, einer Arbeitsstelle, einem Wohnort… Doch für alle Abschiede gilt eines: Loslassen kann der am besten, der sich gehalten fühlt! Wenn wir die Hände von einem Geländer lösen müssen, schaffen wir das viel leichter, wenn uns jemand anders sichert. Rainer Maria Rilke formulierte es so: „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Unsere Kindheit hat uns geprägt und bisherige Erfahrungen halten uns fest, vielleicht sprechen sogar die Regeln unserer Gesellschaft dagegen. Aber wenn in uns ein Gottvertrauen wächst, das über all das hinausgeht, dann gelingt es uns, Abschiede zu ertragen und einen Neuanfang zu wagen. Um erlöst zu werden, müssen wir uns von vielem lösen. Mit Gott, der uns sichert, sind wir stark genug, den Verlust und das Zerbrochene zu ertragen.

Lassen wir los und vertrauen wir darauf, dass Gott uns hält und es gut mit uns meint und erwarten wir hoffnungsvoll das Unerwartete und Neue. AMEN