DLF-Gottesdienst aus Greifswald

Dom St. Nikolai in Greifswald
DLF-Gottesdienst aus Greifswald
Gottesdienst aus dem Dom St. Nikolai in Greifswald
12.06.2016 - 10:05

Über die Sendung

Aufgeführt wird die Kantate "Bleib bei uns, denn es will Abend werden" BWV 6 von Johann Sebastian Bach. Die Predigt hält Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit.
 

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Liebe Gemeinde,

„Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen“, sagte Ludwig van Beethoven über den großen Barockkomponisten Johann Sebastian Bach.

So reichhaltig und abwechslungsreich ist Bachs Werk. Auch mir ging es so. Am Anfang stand ich wie am Ufer eines großen Meeres und freute mich über das, was ich gerade hörte und erlebte. Dann bereiste ich dieses Meer und entdeckte neue Horizonte. Und obwohl ich hier nun schon viele Bachwochen miterleben durfte: Ich entdecke immer wieder etwas Neues in seiner Musik, das mich berührt, mehr, als Worte es könnten.

Was hat Bach persönlich geglaubt? Das war, kaum zu glauben, lange umstritten. Etwa, was seine Kantaten anbelangt.

In seiner Zeit als Thomaskantor komponierte Bach jährlich 60 Kirchenkantaten. Manchmal hat er auf etwas zurückgegriffen, das er früher für weltliche Anlässe geschaffen hatte. So dachten manche Forscher, es gehe Bach um musikalische Perfektion, und der Text sei austauschbar.

 

Aber: Hören wir doch einmal hinein in die Kantate, deren Aufführung wir gerade erlebt haben. Da hieß es im Text:

 

„Hochgelobter Gottessohn,
lass es dir nicht sein entgegen,
dass wir itzt vor deinem Thron
eine Bitte niederlegen:
Bleib, ach bleibe unser Licht,
weil die Finsternis einbricht.“

 

Hat Johann Sebastian Bach das wirklich so gemeint, wie er es hat singen lassen?

Das zu beantworten, war lange Zeit kompliziert. Zum einen sind die Kantatentexte in ihrer barocken Gestalt ja ohnehin nicht leicht zugänglich. „Hochgelobter Gottessohn“ – wer redet heute so? Und manche Bildworte wie „Licht“ und „Finsternis“ werden schon den zeitgenössischen Hörern rätselhaft gewesen sein.

Doch gerade die eigenwilligen Texte haben Bachforscher in der ganzen Welt hellhörig gemacht.

So kam es, dass ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand aus dem Nachlass von Johann Sebastian Bach in dieser Frage Aufschluss geben konnte.

 

Es ist eine dreibändige Lutherbibelausgabe, die auch viele Erläuterungen Martin Luthers enthält. Diese Ausgabe gehörte einmal Johann Sebastian Bach. Sie steht erst seit wenigen Jahrzehnten im Focus der Bachforschung und befindet sich heute in St. Louis, Missouri (USA). Diese Bibel hatte Bach studiert und mit Anmerkungen versehen.

Da hat er zum Beispiel einmal an den Rand geschrieben: „Bei einer andächtigen Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnaden-Gegenwart.“

 

Es ist Gottes Gnade, die im Menschen Wohnung nimmt. Die „andächtige Musik“ ist für Bach eine vom Heiligen Geist „mitgetragene und befruchtete Musik“, deutet Michael Wersin.

 

Bach ist überzeugt: Diese „andächtige Musik“ ermöglicht der Gemeinde, Gottes Gegenwart im Gottesdienst zu spüren. Gott ist gegenwärtig im Gottesdienst durch Schriftlesung, Verkündigung und die Feier des Abendmahls, das war für Bach völlig klar. Aber durch die Musik wird die Anwesenheit Gottes empfunden. Durch sie wird sein Wort emotional vernommen und im Abendmahl gefeiert. So ist im Gottesdienst Gottes Gnade da. Darum lässt Bach singen: „Hochgelobter Gottessohn“. Denn so fand Johann Sebastian Bach seinen Zugang zu Jesus Christus.

 

Er war im Glauben erzogen, gewiss. In seiner Musik aber hat er ihn zum Klingen gebracht, auch für seine Mitmenschen, die wie er schwere Schicksalsschläge erlebt hatten und einzig in der Musik Trost fanden.

 

Ganz anders hatte der Lebensweg des Apostel Paulus begonnen, von dem wir in dem Abschnitt aus dem 1. Timotheusbrief gehört haben. Ihm war der Apostel nicht in die Wiege gelegt worden. Als Saulus von Tarsus war er geboren, hatte jüdische Theologie bei einem der berühmtesten Rabbiner seiner Zeit studiert und wollte ein frommer Mann sein.

 

Deswegen verfolgte er alle, die sich in seinen Augen als religiöse Abweichler darstellten. Und das waren aus seiner Sicht vor allem: die Christen. Mit den Christen habe er Christus verfolgt, sagt Paulus. Und habe sich für etwas Besseres gehalten. Doch Gott hat sich des Sünders Paulus erbarmt. Er hat den gefunden, der ihn nicht gesucht hat und hat ihm Gnade über alle Maßen geschenkt.

Da begegnet sie uns wieder, die Gnade. Johann Sebastian Bach erfuhr die Gnade durch die Musik. Saulus wurde durch Gottes Gnade zum Paulus. Gnade heißt: Ich habe es nicht verdient. Ich habe es nicht gesucht. Ich kann es auch nicht machen, dass Gott kommt und da ist. Aber Gott ist aus freien Stücken gekommen und hat mich gefunden, obwohl ich ihn nicht gesucht habe.

 

Paulus sagt: „Wir stehen hier im Zentrum des christlichen Glaubens. Es geht um die Frage, warum Jesus Christus in diese Welt gekommen ist. Er ist gekommen, „um die Schuldbeladenen zu retten“, wie die Basisbibel übersetzt. Mit den Worten Martin Luthers gesagt: „die Sünder selig zu machen“. Sünde und Schuld sind keine moralischen Kategorien. Paulus und Bach waren keine schlechten Menschen, die moralischer Besserung bedurft hätten. Trotzdem haben sie es als völlig unverdient, als Gnade erfahren, dass Gott ihnen gegenwärtig war. Gnade heißt: Ich weiß um den unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch und freue mich, dass Gott ihn aus freien Stücken überwindet.

 

 

„Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ“, haben wir gerade gehört. Bach hat diesen Choral für einen Gottesdienst am Ostermorgen komponiert. Darum wundert uns heute vielleicht, wie es im Text weitergeht:

 

„Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ,
weil es nun Abend worden ist.
Dein göttlich Wort, das helle Licht,
lass ja bei uns auslöschen nicht.“

 

Ein Abendlied am Ostermorgen? „Das passt doch nicht“ mag mancher denken. Aber: Johann Sebastian Bach hat sich nicht vertan. Er hat diese Strophe bewusst ausgewählt. Nicht nur, weil sie so gut zu den Emmaus-Jüngern passt, denen diese Bitte zugeschrieben wird: „Bleibe bei uns, Herr“.

Sondern diese erste Strophe, die wir bis heute im Evangelischen Gesangbuch haben, stammt vom Reformator Philipp Melanchthon. Der angesprochene Abend meint den Weltabend, die letzte Zeit dieser Welt. Die Reformatoren beobachteten die Weltlage und hatten den Eindruck, dass alles immer schlimmer werde. Manches, das die Reformation ausgelöst hatte, führte zu Chaos. Klöster, die eine bedeutende Rolle für das kulturelle Leben gespielt hatten, wurden aufgelöst und verfielen. Die Bauern fühlten sich ermutigt, die Abschaffung der Leibeigenschaft zu fordern, und begannen einen Bürgerkrieg. Darum die Sorge: Wenn uns nun nur Gott nicht verlässt: „Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ!“

 

In dieser Weltsicht trafen sich Paulus, Melanchthon und Bach. Sie hofften je für sich, dass alles besser und lichter wird. Doch aufs Ganze gesehen fürchteten sie, dass die Dunkelheit eher zunimmt. Ich gestehe: Auch ich frage mich manchmal, ob die Weltlage nicht schlimmer wird. Ist die Situation im südlichen und östlichen Mittelmeerraum – und das heißt vor unserer Haustür – nicht täglich dabei, instabiler zu werden?

 

Der arabische Frühling war vorgestern, heute beobachten wir in der Region nur Herbst und Winter, keine Hoffnung mehr auf ein Ende der Kriege, auf Frieden und Demokratie in absehbarer Zeit. Viele Menschen können ihr Leben nicht mehr fristen in den Ländern des Nahen Ostens. Dazu kommen die Flüchtlinge aus der Mitte Afrikas. Fast täglich hören wir von vielen Leichen, die irgendwo am Ufer des Mittelmeeres angespült werden. Unsere Politiker, die deutschen und die europäischen, überbieten sich in Vorschlägen, wie diese Flüchtlinge von unseren Grenzen ferngehalten werden können, aber es fehlt offensichtlich der Wille und die Kraft, die Probleme in den Herkunftsländern zu lösen oder lösen zu helfen. Und die simple Frage, wie Europa Menschlichkeit zeigen kann, stellt unsere Demokratien auf die Zerreißprobe, im Osten Europas, in der Ukraine und in Polen.

 

„In dieser letzt’n betrübten Zeit
Verleih uns, Herr, Beständigkeit.“

 

So lautet die zweite Strophe des Chorals, den wir gerade gehört haben. Mich erinnert sie daran: Natürlich brauchen wir auch Beständigkeit in der Nächstenliebe. Denn die Probleme dieser Welt sind von uns Menschen mitverschuldet. Ebenso ließen sich bei gutem Willen aller auch Lösungen finden.

 

Aber weder sehe ich eine Einsicht in die Schuldverstrickungen, auch unsere, noch kann ich derzeit den ernsthaften Willen erkennen, Verantwortung zu übernehmen. Da wird mir der Kernsatz aus unserm Predigttext noch einmal wichtig:

 

„Christus Jesus ist in diese Welt gekommen,
um die Schuldbeladenen zu retten.“ (V. 15)

 

Liebe Gemeinde, die Begegnung mit Jesus von Nazareth ist ja keine Kulturveranstaltung. Sondern sie beginnt immer mit einer schmerzlichen Umkehr. Das war bei Paulus so, das ist auch heute so. Man kann mit den besten Absichten in die falsche Richtung laufen.

 

Hatte sich die Religion der jüdischen Vorväter etwa nicht bewährt? Was war denn falsch daran, fragte sich Paulus. Und hatte es nicht verstanden, dass Gott mit Jesus einen neuen Weg eröffnet hatte: einen neuen Weg, um mit Schuld fertig zu werden. Für ihn war das, was dieser Jesus gelehrt hatte, Irrlehre. So hatte er um Gottes Willen Gott verfolgt.

 

„Ich war ein Gotteslästerer!“ heißt es im Predigttext im Rückblick auf diese Zeit. Und an anderer Stelle sagt Paulus sogar noch Heftigeres. Es war nicht menschliche Macht, die ihn verändert hat. Sondern Saulus wird zum Paulus durch das, was Gott ihn erfahren lässt: nämlich, was Gnade, Glaube und Liebe ist.

Mich bewegt die Lebensgeschichte von Herrn Walther, die in seinem Gebet vor wenigen Minuten zum Klingen kam. Man hatte ihm den Sozialismus als Kind und Jugendlichen nahegebracht und er hatte diese Lehre übernommen. Wenn wir an seine Ideale denken: Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wollte der Sozialismus ja nichts Schlechtes. Aber er hat den Egoismus der Menschen unterschätzt, und ihr Bedürfnis nach Freiheit. Ist nun jemand, der einem schuldhaften System folgt, automatisch mitschuldig geworden? Und wem müssten wir diese Frage heute stellen?

 

Herr Walther sagt es für sich so: „Du Gott, du hast mich niemals abgeschrieben. Sondern du warst die Antwort, als ich am Ende war.“ Was für ein Geschenk!

 

Liebe Gemeinde, die Gnade Gottes ist wie ein Licht, das uns umhüllt, wo wir rings um uns herum nur Dunkelheit sehen. „Bleib bei uns, denn es will Abend werden!“ heißt die Kantate, die wir in diesem Gottesdienst hören. Daran halte ich mich. Und an Johann Sebastian Bachs Worte: „Bei einer andächtigen Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnaden-Gegenwart.“

 

Unbegreiflich blieb für Bach die Gegenwart Gottes. Gott ist da und beschenkt uns mit seiner Liebe. Das ist das Wunder, dem Bach vertraute. Auch wenn wir erst spät merken, dass wir in die falsche Richtung laufen, liebt Gott uns in seiner Gnade auf den richtigen Weg. Darauf vertraue ich. Amen.