Die Bibel als gesprochenes Wort

Feiertag
Die Bibel als gesprochenes Wort
09.08.2015 - 07:05
26.07.2015
Pfarrer Jörg Machel

Rainer Unglaub: Das Evangelium nach Johannes, Kapitel eins. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.

 

Ich war erstaunt, auf der Leipziger Buchmesse am Stand eines Hörbuchverlages die Stimme meines Studienkollegen Rainer Unglaub aus dem Lautsprecher zu hören, er las aus der Bibel. Wir hatten zusammen Theologie studiert, über viele Jahre aber nichts voneinander gehört. Rainer Unglaub ist blind und ich wusste, dass er vor seinem Studium Sprecher beim Rundfunk ausgebildet hatte; dass er nun selbst Texte einsprach, war mir neu.



Rainer Unglaub: Innerhalb von zehn Jahren haben wir die gesamte Bibel aufgesprochen, im Verlag. Ich hatte immer vor – Mensch, ich möchte gerne sprechen, und ich habe immer gedacht, das geht nicht, weil, die Finger gehen ja über das Papier und bei dem Gleiten über das Papier hört man es leise, ein Lesegeräusch. Und da habe ich gedacht, nein, das wird nichts. Und dann hat 1987, als ich in der Hörbücherei in Marburg Sprecher ausgebildet habe, da hat mich der Leiter mal mitgekriegt, wie ich im Studio einfach für mich mal was aufgesprochen habe, so ein Stück Literatur. Und da hat er mich dann gefragt, Herr Unglaub, wie wäre es denn, ich habe vor einen Verlag zu gründen, hätten Sie Lust, das Neue Testament für mich zu sprechen? in dem Verlag. Und ich war wie vom Donner gerührt und habe gesagt natürlich, ich würde es sofort machen. Und dann haben wir uns ein Holzaquarium vorne offen, haben wir so hingestellt, das Buch reingelegt, so dass die Hände geschützt waren und dann haben wir angefangen, das Neue Testament aufzusprechen.


Das Neue Testament habe ich noch vom Band angehört, inzwischen wird die Hörbibel als CD verkauft. Das sind 5 CD´s gefüllt mit mp3 Dateien, die Abspielzeit beträgt 84 Stunden. Als Pfarrer werde ich immer wieder gefragt, ob ich denn die ganze Bibel von der ersten bis zur letzten Seite gelesen habe? Lange musste ich verneinen, jetzt kann ich sagen: Gelesen nicht, aber ich habe sie mir angehört, von Anfang bis Ende. Die Bibel nicht nur zu lesen, sondern vorgelesen zu bekommen, ist ein ganz besonderes Erlebnis. Rainer Unglaub hat eine Erklärung dafür.


Rainer Unglaub: Es gibt ein Dreiecksverhältnis zwischen dem Text, der vorliegt - und ich bin ganz bewusst auf Luther gekommen, weil Luther die für mich bilderreichste und wärmste Sprache in den Übersetzungen, die ich kannte, hatte. Der Text also, der Hörer mit dem du einen Dialog pflegst, musst du pflegen, damit er zuhören kann.  Nicht nur die Schnelligkeit betreffend, wie du liest, sondern wie du es gliederst und der Dritte ist der Sprecher, der sich einbringt. Und dieses Dreieck, Sprecher, Hörer, Text, die müssen miteinander in ein  Gespräch kommen. Wenn das klappt, dann ist es gut.

 

 

Rainer Unglaub ist blind. Was bedeutet das für sein Lesen. Wie orientiert er sich, wenn beispielsweise von Farben die Rede ist. Wie findet er einen Zugang zur Welt der Sehenden?


Rainer Unglaub: Bei mir ist es so, ich kann mich zwar noch erinnern, dass ich als Kind Farben sehen konnte, also die Grundfarben, aber für mich überträgt sich inzwischen auf Empfindung, die ich mit einer Farbe assoziiere. Grün - Hoffnungsfarbe. Ich würde es auf Empfindungen reduzieren bei mir.  Ich würde zum Beispiel, wenn mir ein Sehender jetzt ein Bild beschreibt, dann würde ich bitten, bitte beschreibe mir nicht das Bild, sondern gib mir deine Empfindungen wieder, die du angesichts der Komposition hast und dann habe ich mehr davon, als wenn ich jetzt weiß, da oben ist es rot und da ist das gezeichnet,  da habe ich viel mehr davon, wenn du mir deine analogen Empfindungen mitteilst, dann kommt mir das Bild näher.


Schon im Studium fiel mir auf, dass Rainer viele Dinge wahrnahm, die ich durch tausenderlei Ablenkungen einfach nicht hörte. Geräusche, kleine Schwingungen in der Sprache, Stimmungen entgingen ihm nicht. Er brachte sie zur Sprache und wir begannen, unsere eigene Wahrnehmung zu schärfen. Eine geschärfte Wahrnehmung bedeutet aber nicht nur Freude, wie Rainer Unglaub einräumt, zum Beispiel, wenn er an die Lesungen in vielen Gottesdiensten denkt.


Rainer Unglaub: In der Regel werden die Bibeltexte heruntergelesen, heruntergeleiert oder im Singsang runtergebetet sie haben nichts Menschliches, sie haben nichts Beziehungshaftes, nicht zum Text und nicht zum Hörer und der, der sie spricht der versucht es einigermaßen technisch und handwerklich und phonetisch und stimmlich sauber hinzukriegen. Das hat aber mit Textlesen gar nichts zu tun.

 

Da interessiert es mich natürlich, wie die Hörerinnen und Hörer auf seine Lesung reagiert haben.

Rainer Unglaub: Ich weiß nur, dass das für viele Leute doch unverzichtbar ist, nicht nur für Leute, die nicht sehen, nicht nur für Leute, die nicht mehr lesen können, im Alter oder so, sondern für viele, die mir mitgeteilt haben, dass sie die Bibel auf einen völlig neue Weise einfach durch das Sprechen des Wortes das da steht, oder die Worte, die da stehen deutlich geworden ist und dass sie tagtäglich damit leben, das hat mich gefreut.

 

 

Wer die gesamte Bibel als Hörbuch herausbringen möchte, muss sich für eine Übersetzung entscheiden. Die Auswahl ist riesig. Ich möchte von Rainer Unglaub wissen, nach welchen Kriterien er sich entschieden hat.

Rainer Unglaub: Ich habe mich auf den Übersetzer konzentriert, der, glaube ich, nach wie vor einer derjenigen war, der den Bilderreichtum der sogenannten Urtexte am ehesten in unsere oder sagen wir, in seine Zeit hat übertragen können und ich bin ja von einer revidierten Fassung des Luthertextes ausgegangen, die 1984 abgeschlossen war und wenn ich zum Beispiel las vom reichen Mann und armen Lazarus und der arme Lazarus dann nach seinem Tod in Abrahams Schoß liegt und dort sich wohlfühlt und ich andere Übersetzungen lese, wo er bei  Gott war und da war es gut, da war dieses in Abrahams Schoß liegen und es warm haben und geborgen sein, das war es, das ist das Bild auch wenn es einer vergangenen Zeitvorstellung angehört. Und da habe ich es versucht so selbstverständlich zu lesen, als wäre das ein Bild, das wir heute haben.

Hätte es Alternativen zum Luthertext gegeben? Gibt es andere Übersetzungen, die eine ähnliche Kraft entfalten?

Rainer Unglaub: Also ich habe mal in öffentlichen Lesungen, in Kirchen und anderswo, habe ich große Teile von Bubers Alttestamentübersetzung gesprochen. Das ist für mich was ganz anderes gewesen, also es war zunächst mal fremd, auch die Art, wie er übersetzt zum Teil, aber gerade durch dieses etwas fremd wirkende, durch das Aufgeraute, konnten wieder neue Dinge deutlich werden, die ich vielleicht bei dem vertrauten Luthertext nicht fand. Also bei Buber zum Beispiel habe ich ganz neuen Zugang gefunden, ganz neue Stimmungsgehalte entdeckt, die ich, weil es mir zu vertraut war, bei Luther nicht mehr hatte. Und ich denke, es ist manchmal sehr gut, wenn uns der Text, den wir so gut zu kennen meinen, mal in neuer Farbe entgegenkommt, weil wir dann merken, Mensch, da steckt ja noch ungeheuer viel mehr drin oder da steckt ja noch anderes drin; so ist mir zum Beispiel bei Buber zumute gewesen.


Es gibt viele neuere Übersetzungen, die sich darum bemühen, die biblischen Texte für die Menschen von heute zu erschließen, die auf alte Worte und Wendungen verzichten, um so eine Brücke in die aktuellen Hörgewohnheiten zu bauen.


Rainer Unglaub: Ich habe mich inzwischen mit den neueren Übersetzungen nicht mehr so beschäftigt. Ich weiß jetzt nicht mehr in welcher Übersetzung steht, also wenn Jesus auf dem Wasser geht und dann näher kommt und der Petrus will ihm entgegenlaufen und da steht in einer Übersetzung: Und etwa um drei kam er bei ihnen vorbei und sie riefen: ein Gespenst! Und das fand ich einfach der Situation und dem Ungeheueren was da geschildert wird nicht gewachsen, das war eindimensional. Wenn ich Bibel lese, dann lese ich Luther oder Buber  oder ja, manchmal auch Walter Jens im Neuen Testamen, der hat mir auch sehr viel gegeben.

 

 

Gottesdienstbesucher sind es gewohnt, immer nur kurze Passagen vorgelesen zu bekommen. Nur wenige sind mit den großen Zusammenhängen vertraut.


Rainer Unglaub: Ich habe den Erzähl(er)faden des jeweiligen Schreibenden einfach verfolgt. Und habe mich nicht stören lassen durch irgendwelche Unterbrechungen oder Sinnabschnitte, die man da für bestimmte Zwecke in der kirchlichen Arbeit gemacht hat, ich bin einfach dem Erzähl(er)faden gefolgt. Und wo man den Eindruck hatte, hier ist irgendwas, verderbt, dann habe ich versucht es einfach so zu sprechen, wie wenn man es erzählt und erinnert sich halt jetzt. Da(s) ist auch das noch und so. Ich habe es versucht, gerade im Neuen Testament, vom Erzählen her zu gestalten und da ist ein Faden bei den Evangelien, bei jedem für sich genommen ist ein Faden.

 

Entwickelt man Vorlieben, die sich aus dieser intensiven Bibellektüre heraus entwickeln?


Rainer Unglaub: Im Neuen Testament ist es besonders das Lukasevangelium gewesen, mit seinen vielen Bildergeschichten und Gleichnissen, mehr als in den anderen und Markus, der einfach und dann, und dann erzählt hat, so wie man eben erzählt und alsbald und dann wieder und darauf und so. Diese  beiden Evangelien sind mir am nächsten gewesen. Und wenn ich jetzt nachdenke, dann kommen mir ständig Sätze aus dem Neuen Testament und dann noch in dieser schönen Konjunktivform, Was hülfe es, dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Ja, das sind Sätze, die haben mich damals ungeheuer getroffen, mehr, als wenn ich sie nur gelesen hätte, weil ich musste sie ja dem Hörer nahe bringen und ich musste ich sein dabei, nicht irgendjemand, und ein Muster, der da ein Handwerk vollführt und spricht, sondern ich musste mich einbringen und mit dem Text und mit dem Hörer kommunizieren.

 

Wo es Lieblingstexte gibt, da gibt es auch Stolpersteine, so vermute ich.


Rainer Unglaub: Es fiel mir ausgesprochen schwer, die Apokalypse zu lesen, also die Johannesoffenbarung. Da habe ich mich also ständig am Kopf gekratzt und gedacht, wie mache ich denn das, wie mache ich denn das, oh ich kriege es nicht hin, und ich konnte ja nun nicht die Wut und diesen Hass, der da auch drin steckt, den konnte ich ja schlecht unterdrücken, indem ich da so vor mich hin rede, das geht ja auch wieder nicht, und ich kämpfte dann mit dem Widerwillen, Stücke zu lesen, die eigentlich nur Mord und Totschlag und Vernichtung und Grausamkeit - auch wenn ich hundertmal weiß, dass es in der Weltgeschichte das ständig gibt, aber muss denn das im Interesse einer höheren Ordnung und eines neuen Jerusalem alles zerschmissen werden und die paar gradstehenden Menschen, die da noch gut sind und fromm sind und die durchhalten, die werden gerettet, das ist nach wie vor etwas, was ich nicht nachvollziehen kann.

 

Das Bibelprojekt startete mit dem Neuen Testament, dann kam aber auch das Alte Testament, die hebräische Bibel dazu. Gab es da besondere Herausforderungen für den Sprecher?


Rainer Unglaub: Es ist so, dass ich - je älter die wahrscheinlichen Herkünfte der Texte sind, desto näher waren sie mir menschlich, weil sie noch nicht so sehr verpriestert waren. Die Priesterschrift, der ganze Stil ist viel abstrahierender. Es muss alles drunter kommen, wir müssen alles mit berücksichtigen und es muss auch A und B und C und D geben und es darf nicht vergessen werden. Während ich zum Beispiel im ersten Schöpfungsbericht, da konnte ich wie einen Mythos, einfach so erzählen.

 


Rainer Unglaub: Erstes Buch Mose, Kapitel 1. Die Schöpfung. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.  Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.  Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis  und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.

 

Die Bibel einzulesen bedeutet ja nicht nur, ein besonderes Stück Literatur zu sprechen, die Bibel wird von vielen Menschen als Gottes Wort gehört und gelesen. Was das für Rainer Unglaub bedeutet, das möchte ich wissen.

Rainer Unglaub: Für mich war es schon immer so, dass wenn ich Gott sage, das ist ein Abstraktum, das bedeutet für mich gar nichts. Das ist ein DU, ich habe das schon bevor ich Martin Bubers Ich-Du-Philosophie kennenlernte, da wusste ich das eigentlich, das ist jemand, den kann ich ansprechen, so wie ich bin und der spricht mich auch an wie ich bin, so wie ich bin. Davon bin ich ausgegangen, als erstes. Dass es ein Ansprechen ist, das auf den Menschen gerichtet ist, so wie er jetzt gerade ist. Sonst kann ich mir Gott überhaupt nicht denken. Den Begriff schon gar nicht.

 

Welche Bedeutung hat diese Überlegung für den Sprecher Rainer Unglaub. Wie lässt sich Gott sprechen ins Mikrofon?

Rainer Unglaub: Ja, das hängt davon ab wie derjenige, der da geschrieben oder aufgeschrieben hat, Gott empfunden hat. Das muss ich ja mit berücksichtigen. Wenn in der Genesis zum Beispiel in der Abrahamverheißung oder Jakob - da ist diese  Ich-Du-Beziehung da. Da habe ich versucht, ihn so menschlich wie den Menschen zu sprechen. Nur ein ganz klein wenig weniger emotional, weil er ja doch schließlich nicht nur das ansprechende Du ist, sondern auch etwas - es gibt ja nichts Überpersönliches - aber etwas, was darüber hinaus geht


Gibt es einen Erkenntnisgewinn nach diesem Mammutprojekt für Rainer Unglaub persönlich?

Rainer Unglaub: Das ist mir sehr viel deutlicher geworden, dass es ja eine Beziehungsgeschichte ist, dass das Volk Israel im Alten Testament an diesem DU langsam wurde zum ICH. Buber spricht von der Ich-Werdung am DU. So wie jeder Mensch an den Bezugspersonen, die für ihn da sind, zunächst zum ICH wird und später durch andere in seinem ICH; in seiner Ich-Werdung fortschreitet, so eben auch das Volk. Das habe ich da besser nachvollziehen gelernt und mehr auch in meinem inneren Befindlichkeiten – Mensch Gott, wenn dieser Begriff jetzt mal verwendet wird, Gott wäre klein, wenn er sich nicht auch ganz persönlich, äußerst persönlich, an jeden Einzelnen in seiner Person, in seiner Situation, in seiner Verfassung, in seiner Gestimmtheit, in seiner Verzweiflung als DU zeigt, das habe ich da besser verstehen gelernt.

26.07.2015
Pfarrer Jörg Machel