Raj ist Hindu, ich bin Christ

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Raj ist Hindu, ich bin Christ
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21.05.2017 - 07:05
21.05.2017
Pfarrer Jörg Machel
Über die Sendung

Eine Freundschaft zwischen einem Inder und einem Deutschen. Seit 20 Jahren sprechen die beiden über Lebensfragen. Was prägt uns? Woran glauben wir? Einblicke in eine persönliche interreligiöse und interkulturelle Begegnung.

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Machel: In Indien habe ich Religion neu und sehr anders kennengelernt, als ich es aus europäischer Perspektive gewohnt war. Und deshalb war es ein Segen für mich, dass ich Anfang der achtziger Jahre ein Jahr lang für die deutschsprachige Gemeinde in Nordindien arbeiten durfte.

Wie Inder Religion praktizieren, darüber reden und ihren Glauben in den Alltag integrieren hat mich neu auch über meinen Glauben nachdenken lassen. Raj, ein frommer Hindu, ist mir zu einem Freund geworden, von ihm habe ich viel über seine Religion erfahren, nebenbei aber auch eine ganze Menge über mich selbst.

Mein religiöses Bewusstsein hatte sich durch ständige Reibereien mit der Staatsmacht der DDR entwickelt. Als Jugendlicher hat mich die Frage nach Gott nicht sonderlich bewegt, aber die Sticheleien meiner Lehrer und Mitschüler ließen eine trotzige Kirchlichkeit in mir wachsen. Dabei ging es aber mehr um die Verteidigung der Kirche gegen irgendwelche Unterstellungen, als um meine persönliche Frömmigkeit. Ich kann mich noch ziemlich genau erinnern, wie mein Kinderglaube mit etwa zwölf Jahren zerbrach, weil ich keine Hilfe bekam, um den Schöpfungsglauben in der Kirche mit dem Biologieunterricht in der Schule zu vereinbaren.

Einen solchen Bruch habe ich bei Raj nicht entdecken können. Wenn Raj über seinen Glauben spricht, dann ist er ganz bei sich und unangefochten. Theologische Fragen beschäftigen ihn wenig. Er erzählt davon wie er seinen Glauben praktiziert, von seinem Hausaltar, seinen Gebeten, von seinen Besuchen im Tempel. Religion gehört in seinen Alltag, ganz selbstverständlich.

 

Raj: In Indien lernt man Religion in keiner Schule, das ist eine Familienangelegenheit. Religion wird in der Familie unterrichtet und in keinem Tempel. Und alle Kinder lernen die Religion in Indien in der Familie.

Meine Oma ist regelmäßig zum Tempel gegangen und immer wenn sie nach Hause kam hat sie auch von Weisheiten erzählt. Wir sind alle Hindus, wir gehen regelmäßig zum Tempel, das bedeutet einmal in der Woche. Wir haben zuhause einen Altar, weil man nicht jeden Tag zum Tempel fahren kann, Wenn man morgens aufsteht und nachdem man geduscht hat, geht man zuerst zu seinem Altar und man wünscht sich einen guten erfolgreichen Tag und abends bevor man ins Bett geht kommt man wieder zu dem Altar und man bedankt sich bei dem Gott, dass er Tag erfolgreich war. Und das wird tagtäglich praktiziert, das ist eine Einstellungssache.

 

Machel: Wenn ich Raj so reden höre, erinnere ich mich an meine eigene Kindheit. Auch bei mir war es die Oma, die mich beten lehrte und die mir Geschichten aus der Kinderbibel vorlas. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass ich in die Christenlehre ging und für sie war es auch selbstverständlich, dass ich konfirmiert werde – das war es für mich aber schon nicht mehr! Hätte die sozialistische Schule nicht so viel Druck gemacht und hätte ich meiner Großmutter damit nicht weh getan – aus eigenen Stücken hätte ich mich nicht konfirmieren lassen. Glaube und Wissenschaft konnte mein in dieser Zeit noch recht konservativer Konfirmandenunterricht nicht versöhnen. Und so entschied ich mich für die Welt der Wissenschaft, in der der Gottesglaube keinen Platz hatte.

Wie sehr ich da aber schon geprägt war durch die selbstverständliche Frömmigkeit meiner Großmutter, das wurde mir erst in Indien richtig bewusst. Jenseits aller Zweifel in der Gottesfrage und an all den Wundererzählungen, hatte ich ein Urvertrauen in das Leben aufgebaut. Dieser Glaube wurzelte sehr tief und ließ mich darauf vertrauen, dass ich mit meinem Leben auf festem Grund stehe, der tiefer reicht, als das, was ich selbst oder die Umwelt leisten können.

Was mich besonders faszinierte, als ich nach Indien kam, war der entspannte Umgang der Religionen miteinander. Dass es in Indien Religionskonflikte gab und gibt, das wusste ich und wir erfahren es auch heute immer wieder aus den Medien. Doch mein persönlicher Eindruck war ein anderer. In der Nähe meiner Wohnung war eine lange Mauer mit Heiligenbildern bemalt und zwischen Shiva, Vishnu, Durga und Ganesha, waren auch Jesus und Maria abgebildet. Außer mir war niemand erstaunt über diese religionsübergreifende Zusammenstellung. Für Raj ist das nichts Besonderes. Der Hinduismus ist keine Bekenntnisreligion. Raj wurde da hineingeboren und schaut mit Gelassenheit auf die anderen Religionen.

 

Raj: Hinduismus ist eine sehr, sehr tolerante Religion. Ich persönlich denke, wie wir im Hinduismus sagen, wir haben nur einen einzigen Gott. Im Christentum nennt man Jesus Christus, im Islam nennt man ihn Allah, im Hinduismus haben wir Brahma, Shiva oder Vishnu. Es gibt einen einzigen Gott, der verschiedene Namen hat. Und die tiefe Lehre von allen Religionen, von allen Propheten, allen Philosophen ist gleich: keine Religion hat uns beigebracht, dass wir Kriege führen sollten, dass wir Probleme machen sollten, alle Religionen haben uns beigebracht, dass wir in Liebe in der Harmonie leben sollten und alle Menschen sind unsere Brüder und Schwestern.

 

Machel: Doch Toleranz entwickelt sich nicht automatisch. Toleranz entwickelt sich in einem toleranten Umfeld, und wieder war es die Großmutter, derer Raj sich dankbar erinnert.

 

Raj: Sie war ein sehr liberaler Mensch. Und obwohl wir Hindus sind hatten wir auch Freunde, die Moslems sind, die Sikhs sind, die Buddhisten sind und sie haben uns auch besucht. Und Hinduismus ist überhaupt eine sehr liberale Religion und es gibt keine Zwänge, man wird nicht gezwungen irgendetwas zu praktizieren. Jeder kann die Religion so ausüben wie man will.

 

Machel: Auch darin fühle ich mich Raj verbunden, dass wir beide ohne Angst über die Grenzen unserer eigenen Religion hinwegschauen. Ich selbst habe viele Anregungen durch meine buddhistischen Freunde bekommen. Raj erzählt mir voller Begeisterung von seiner Begegnung mit dem Sikhismus:

 

Raj: Sikhismus war eine Reformbewegung aus dem Hinduismus und in dem Sikhismus gibt es kein Kastenwesen, die Leute sind bereit für die anderen etwas zu tun und sie tun es, das sieht man in der Tat. Es gibt die sozialen Einrichtungen von Sikhs, wo tausende von Menschen kostenlos jeden Tag gefüttert werden. Und ich persönlich akzeptiere als Hindu die tollen Dinge von allen Religionen. Ich bin ein sehr toleranter Mensch und ich gehe auch sehr gern zu einem Sikhtempel, zu einer Moschee in jeder Religion gibt es bestimmte tolle Dinge, die ich sehr gern akzeptiere und mache.

 

Machel: In manchen Zusammenhängen merke ich allerdings auch, wie verschieden mein hinduistischer Freund und ich sind. Ich neige dazu, mich zu positionieren: „entweder – oder“, „ja – oder nein“! Bei Raj stoße ich fast immer auf ein „sowohl als auch“. Für mich spielt das „Jetzt“ eine große Rolle: Die klare Entscheidung und die daraus resultierende Tat. Raj, so habe ich den Eindruck, lebt immer auch noch in anderen Dimensionen. Die Vorstellung, dass der gelebte Augenblick sich einbettet in die lange Kette von Wiedergeburten, hat Bedeutung auch für sein alltägliches Leben, so wie für das Leben sehr vieler Inder.

 

Raj: Die Wiedergeburt spielt in der indischen Gesellschaft eine Rolle und ich bin auch derselben Meinung und man versucht immer gutes Karma zu tun, gute Dinge zu tun damit man in der Gesellschaft in der besseren Kaste in der besseren Klasse aufsteigen kann. Und irgendwann mal hat man nach vielen Geburten den Platz im Himmel was Nirvana ist oder Moksha ist was Erlösung ist. Dann ist man frei von der Kette der Wiedergeburten und jeder Inder versucht das zu erreichen. Man badet im Ganges, man versucht den anderen zu helfen, man muss nicht unbedingt in einen Djungel oder auf einen Berg gehen, um zu meditieren. Wenn man seine Rolle auf dieser Welt gut spielt, mit Ehrlichkeit, dann würde man schon Nirvana erreichen.

Die Religion trägt in Indien sehr groß dazu bei, dass die Leute friedlich bleiben. Es gibt immer noch keinen Neid, und Religion trägt wirklich sehr groß dazu bei, dass die Leute in der Harmonie leben und dass die Leute nicht neidisch und nicht gierig werden.

 

Machel: Das ist sicher ein Stück Lebensqualität, wenn Menschen nicht mit ihrem Schicksal hadern und damit auch in einer gewissen Grundzufriedenheit leben. Doch mir kommt sofort der Vorwurf von Karl Marx in den Sinn, dass Religion das „Opium des Volkes“ sei, das einlulle und verhindere, dass Menschen ihre legitimen Rechte einfordern. Und wenn ich mich daran erinnere, wie schamlos manche Arbeitgeber aus den gehobenen Kasten die Leidensbereitschaft der niederen Kasten ausnutzen, dann scheint mir sogar die Radikalisierung des Satzes durch Lenin zu stimmen, dann nämlich wird Religion zum „Opium für das Volk“, verabreicht zum eigenen Vorteil. Diesen Aspekt sieht mein Freund Raj nicht so radikal wie ich. Dass diese Grundhaltung allerdings zur Lethargie führen kann, darin stimmt Raj mir zu.

 

Raj: Zum Teil bin ich auch derselben Meinung, weil die armen Menschen ihr Schicksal akzeptieren und sie versuchen nicht, ihr Schicksal zu ändern. Sie meinen, der Gott hat uns das gegeben und wir müssen uns damit abfinden. So das ist ein wirklich großer Nachteil von der Religion, dass die Mensch sich zufrieden geben, mit dem, was sie haben.

 

Machel: Wenn die Menschen auf der einen Seite glauben, ihr jetziges Schicksal sei Frucht eines früheren Lebens, so ist es Raj wichtig darauf hinzuweisen, dass das, was wir heute tun und lassen bestimmend sein wird für die nächste Reinkarnation. Und das führt dann gerade nicht zur Lethargie, sondern zu einem engagierten Handeln, und dafür lobt er seine Religion.

 

Raj: Ich finde das sehr befriedigend, weil jeder an sein Karma denkt. Ich möchte hier ein Beispiel erwähnen. Alle Ärzte, die mit 60 Jahren in Rente gehen wollen auch etwas für ihr Karma tun und sie arbeiten in einem Stiftungskrankenhaus zwei bis drei Stunden jeden Tag ehrenamtlich. Die Leute geben ein paar Prozente von ihrem Geld als Spende für die  armen Menschen. Jeder denkt an sein Karma. Und das finde ich eine tolle Sache.

 

Machel: Spannend finde ich zu erleben, wie rasant sich die Welt verändert. Auch wenn die Inder deutlich traditionsbewusster sind, als wir hier in Europa, stehen auch sie vor enormen Veränderungen. Dessen ist sich Raj durchaus bewusst und schaut voll Stolz auf die rasante Entwicklung in seinem Land, aber auch mit etwas Sorge, da nur schwer zu überschauen ist, was das für ihn und seine Kinder bedeuten wird.

 

Raj: Wir haben zuhause für die Kinder die religiöse Erziehung, aber ich muss sagen, die Außenwelt spielt auch für sie eine große Rolle und sie werden nicht so religiös sein wie wir jetzt sind, weil die religiöse Erziehung bei uns zuhause sehr streng war, was nicht mehr der Fall ist. In den meisten modernen Familien sind die beiden Elternteile berufstätig und die Eltern haben nicht so viel Zeit, die Kinder religiös zu erziehen und die Außenwelt, die Schule, die Freunde spielen auch eine Rolle und die werden nicht mehr so religiös sein wie wir religiös erzogen worden sind.

 

Machel: Wenn Raj von seinen Eltern und Großeltern erzählt, dann ahnt man, wie tiefgreifend der Wandel ist, den er durchlebt, besonders deutlich hat sich das Rollenbild der Frau gewandelt.

 

Raj: Früher mussten die Frauen alles machen, was von den Männern bestimmt wurde. Das hat einen engen Zusammenhang mit der Bildung. Mehr und mehr Frauen besuchen jetzt Schulen, Hochschulen, sie verdienen ihr Geld und sie sind selbstbewusst. Das ändert sich sehr rasch. Zum Teil hat das Fernsehen und auch Internet unser Leben geändert. Indien ist in diesem Sinne im Umbruch und die Frauen werden selbstbewusster.

 

Machel: Dass die neue Zeit nicht nur Fortschritt bringt, sondern ihm auch ein wenig Sorge bereitet, das offenbart Raj, als er über sein Alter nachdenkt.

 

Raj: Ich möchte meinen Lebensabend in Ruhe verbringen und auch mit der Familie. In Indien haben wir die Sitte, dass die älteren Leute immer in der Familie sind. Wir haben keine Heime für die Senioren und ich hoffe, dass ich bis zum Ende meines Lebens in der Familie bleiben kann und dass das Großfamiliensystem erhalten bleibt.

 

Machel: Als sich unsere Tochter mit etwa sieben Jahren entschied, keine Tiere mehr zu essen, war das ein spürbarer Kulturwandel in unserer Familie. Als ich Raj davon erzählte konnte er nur lächeln.

 

Raj: Das haben wir in der Familie praktiziert, meine Familie besteht aus zwölf Personen und wir sind alle Vegetarier. Hinduismus verbietet grundsätzlich Fleischessen. Ich bin sehr streng vegetarisch erzogen worden. Und ich bin mehrmals in Europa gewesen und ich habe nie Fleisch gegessen, das hängt von der Einstellung ab.

 

Machel: Nicht nur, muss ich gestehen. Von der Einstellung her könnte ich mich leicht zum Vegetarier erklären, aber die Gewohnheit, die steht dagegen. Mit dem religiösen Hintergrund von Raj fiele es mir wahrscheinlich leichter, ganz und gar auf Fleisch zu verzichten. Er hat ein ziemlich starkes Argument, das meiner Religion fremd ist.

 

Raj: Wir Inder haben immer gedacht, wenn ein Tier getötet wird, kann dieses Tier auch die Seele von dem Opa oder der Oma haben. Und die Inder sind Vegetarier, die meisten wollen Vegetarier bleiben, sie wollen Fleisch vermeiden, weil das Klima auch zu dem Fleisch nicht gut passt, weil wir fast immer die Wärme oder die Hitze haben. In Indien haben wir so große Auswahl von Gemüse und von vegetarischen Speisen, dass einem das Fleisch nicht fehlt.

 

Machel: So hat ein Gespräch über Religion fast immer auch eine sehr persönliche und eine gesellschaftspolitische Dimension – so wie dieses mit meinem Freund Raj. Würde Indien mit mehr als einer Milliarde Menschen sich in seinem Fleischverbrauch den westlichen Ländern annähern, es wäre eine ökologische Katastrophe. Ließen wir uns dagegen in unserem Fleischkonsum ein wenig von Indien inspirieren, es wäre ein Segen für die Erde.

Raj ist Hindu, ich bin Christ, unsere Religionen sind denkbar unterschiedlich; doch immer wieder gelingt es uns gerade dadurch, die eigene Position in neuem Licht zu sehen. In Berlin-Neukölln entsteht derzeit ein großer Hindutempel. Irgendwann werden Hindutempel in Deutschland so selbstverständlich sein, wie es die Kirchen in Indien schon heute sind.

Raj und ich haben erlebt, wie bereichernd es ist, wenn wir uns mit unseren Kulturen und Religionen begegnen. Und es kann so wohlklingend sein wie die Musik von Anoushka Shankar und das musikalische Zusammenspiel von Yehudi Menuhin und Ravi Shankar.

21.05.2017
Pfarrer Jörg Machel