Der Mensch kann Verantwortung

Gedanken zur Woche
Der Mensch kann Verantwortung
Gedanken zur Woche mit Pfarrer Stephan Krebs
10.07.2020 - 06:35
Über die Sendung

Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Fahren – das war einmal ein Stück persönliche Freiheit. Das bedeutete Verantwortung zu übernehmen für ein Fahrzeug, für mich selbst und die anderen Verkehrsteilnehmer*innen. Heute fahre ich - zumindest in dem Ballungsgebiet, in dem ich lebe - hinterher. Und sollte die Straße doch mal frei sein, dann sagt mir garantiert ein Schild, wie ich zu fahren habe. Das gilt dann für alle gleich, egal wie erfahren oder unerfahren, egal ob Motorrad oder Schwerlaster. Straßenverkehr ist heute eine wie Schafherde, in der ein Tier dem anderen hinterher trottet, bewacht und behütet vom Hirten und seinen Hunden. Passt das zu mir, zum Menschsein?

 

Gerade mal zehn Wochen lang hatten wir eine neue Straßenverkehrsverordnung. Nun hat sie der Bundesverkehrsminister wieder zurück genommen. Er findet die Strafen zu streng und befürchtet, dass dadurch zu viele Autofahrer*innen ihren Führerschein verlieren. Für diese Korrektur, so scheint es jedenfalls, dient ihm ein juristischer Formfehler in der Verordnung.

 

Doch wie kommt es, dass so viele Autofahrer*innen den geltenden Regeln nicht folgen?

Aus meiner Sicht gibt es dafür vier Gründe:

 

Heutige Autos vermitteln innen so viel Sicherheit, dass die Tempolimits gegen das persönliche Fahrgefühl verstoßen. Wohlklimatisiert, geräuschgedämmt und luftgefedert geht das Gefühl für Masse und Geschwindigkeit verloren.

 

Dann: Viele Leute, die heute berufstätig sind, stehen unter hohem Druck. Sie wollen, ja sie müssen zügig ankommen. Und das wird auf den vollen Straßen immer mühsamer. Da drücken viele drauf, wenn es denn überhaupt mal geht.

 

Als dritten Grund sehe ich Ungereimtheiten in den Regeln. Ein Beispiel: Auf meinen Weg zur Arbeit komme ich über eine Straße, auf der ich 100 km/h fahren darf – viel zu schnell. Denn die Straße ist eng, sie hat viele Löcher und führt ohne Randstreifen durch einen offenen Wald. Dann wird die Straße breiter und deutlich sicherer, denn nun ist sie durch Wildzäune abgesichert. Aber ich darf nur noch 70 fahren. Warum? Weil ich gerade eine Kreisgrenze überquert habe. Andere Behörden sind zuständig.

Bei vielen Regelungen, so scheint mir, wurde das Zu schnell fahren bereits eingepreist. Da steht dann 70, damit die Leute nicht mehr als 90 fahren. Darin zeigt sich: Es ist ein Spiel um die Grenzen des Erlaubten. Und alle spielen mit. Ich kenne niemanden, mich eingerechnet, der oder die nicht auch schon geblitzt worden ist. Selbst die allervorsichtigsten.

 

Das führt mich zum vierten und tiefergehenden Grund, aus dem viele Autofahrer*innen elastisch mit den Regeln umgehen: Ihnen ist in den vergangenen Jahrzehnten Stück für Stück die Verantwortung entzogen worden. Und nun reiben sich viele wie pubertierende Kinder an den Regeln und versuchen sie zu dehnen.

 

Der Gesetzgeber hatte einen guten Grund, die Regeln zu verschärfen: die Zahl der Unfälle. Sie zeigt, zu viele Menschen sind ihrer eigenen Verantwortung im Straßenverkehr nicht gewachsen. Sie überschätzen sich. Sie gehen zu hohe Risiken ein. Und es sind einfach zu viele, die auf die Straßen drängen. Also schützt der Staat sie vor sich selbst – und die anderen Verkehrsteilnehmer mit. Wie ein Hirte seine Herde.

 

Doch der Mensch ist nicht nur ein Herdentier – auch wenn die Bibel dieses Bild geprägt hat. Sie beschreibt den Menschen auch als ein starkes Wesen. „Wenig niedriger als Gott“, heißt es im Psalm 8. Denn der Mensch kann Verantwortung, er kann Fürsorge und Rücksicht. Eigentlich.

 

Was ist der Mensch? Diese Frage stellt Psalm 8. Und schon die ältesten Texte der Bibel bezeugen: Er ist fürsorglich und rücksichtslos - in einer komplizierten Mischung von beidem und vielem mehr. Ein widersprüchliches Wesen. Deshalb: Je mehr man ihn an die Hand nehmen will, desto wilder drängt er nach Freiheit. Je mehr man ihm zutraut, desto verantwortungsbewusster kann er werden. Gott traut den Menschen viel zu. Aber er bleibt ihnen dabei kritisch nahe.

 

Was tut uns als Verkehrsteilnehmern gut – ein größeres Zutrauen oder höhere Strafen? Diskutieren Sie mit. Auf Facebook. Unter ‚Evangelisch im Deutschlandradio‘.

 

 

Bibelnachweis:

Psalm 8

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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