Dem Schmerz Raum geben

Gedanken zur Woche

Gemeinfrei via Unsplash/ Averie Woodard

Dem Schmerz Raum geben
Gedanken zur Woche mit Cornelia Coenen-Marx
12.11.2021 - 06:35
02.09.2021
Cornelia Coenen-Marx
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Gedanken zur Woche von Cornelia Coenen-Marx

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Jesus muss wirklich wütend gewesen sein. Wahrscheinlich hat er Schlimmes gesehen: Wie Kindern Gewalt angetan wird. Wie die Kleinen verachtet werden, die Schwachen mit Füßen getreten.

 

Da steht er im Kreis seiner Jünger, in ihrer Mitte ein Kind. Jesus hat es dahin gestellt, weil seine Anhänger sich gerade gestritten haben: Wer denn der Größte wäre, der Tollste, der Beliebteste bei Gott. Und Jesus zeigt auf das Kind: So muss man sein, um wirklich groß zu sein. So voll Vertrauen, voller Hoffnung auf das Leben. Aber wer dieses Vertrauen missbraucht, höre ich Jesus jetzt sagen - und er sagt es laut und heftig -, wer ein solches Kind verführt und ihm Gewalt antut: Der tut mir selbst Gewalt an; der hat hier keinen Platz. (vgl. Matthäus 18, 1-9)

 

In dieser Woche hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland öffentlich mit dem Schutz vor sexualisierter Gewalt beschäftigt - auf der Synode in Bremen. Das Thema ist nicht neu – wahrhaftig nicht. Und es ist überall virulent, wo Abhängigkeiten herrschen und Menschen eng miteinander zu tun haben. In Familien und Vereinen, in Theatern und Redaktionen. Und auch in den Kirchen.  

Das macht mir besonders zu schaffen und es schmerzt.

 

Lange hat es so ausgesehen, als ginge es beim Thema Missbrauch vor allem um die katholische Kirche. Bei uns Protestanten gibt es ja keine Priester und kein Zölibat, keine Klöster und keinen Beichtstuhl. Bei uns, denkt man, ist alles weniger hierarchisch und mehr auf Augenhöhe, solidarisch und oft freundschaftlich. Aber auch das kann gefährlich sein und zum Einfallstor der Verführung werden. Davon haben die Betroffenen bei der EKD-Synode anschaulich berichtet. Das hat wehgetan und viele beschämt.

Der springende Punkt, meinte Prof. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut, der springende Punkt ist, dass wir begreifen: Wir reden nicht über die Vergangenheit der Kirche. Wir reden auch nicht über die anderen. Wir reden über uns selbst und unsere Gegenwart. Und wir sind nicht die Guten, wir sind nicht die Besseren – auch wenn wir das so gern wären.

 

Seit 2010 in Ahrensburg ein sogenannter Missbrauchsskandal aufgedeckt worden war - damals trat die Bischöfin Maria Jepsen zurück - wurden in den Landeskirchen Kommissionen eingerichtet und Beauftragte bestellt. An die tausend Fälle sexualisierter Gewalt wurden ermittelt und im Blick auf Entschädigungen bearbeitet.  Aber ein Gesamtüberblick über Taten und Täterprofile fehlt bis heute. Jetzt will die Evangelische Kirche eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben, um die Strukturen des Missbrauchs in Gemeinden und Diakonie erforschen zu lassen.  

 

Für viele Betroffene kommt das zu spät. Kein Wunder, dass sie bitter enttäuscht sind. Zumal der Betroffenenbeirat, den die EKD eingerichtet hatte, im Sommer nach verschiedenen Konflikten ausgesetzt worden war. Offenbar fehlte das Vertrauen. Mehr noch: Das klare Bekenntnis zur Betroffenenbeteiligung, wie Detlev Zander sagt, der selbst als Kind sexuelle Gewalt erlitten hat - in einem Heim der Brüdergemeinde. Unter diesen Umständen könnten sie niemandem zu einem kirchlichen Verfahren raten, sagen zwei andere. Letztlich fehle dem Beirat ein verantwortliches Gegenüber, das dem Schmerz und der Wahrheit standhielte. Und dass den Betroffenen Mitspracherechte fehlen, wo es doch um ihre eigene Sache geht, das mussten auch Bischöfe eingestehen. Viele waren erschüttert. Es gab sehr persönliche Entschuldigungen.

 

Und mir ist klar geworden, wieviel sich ändern muss. Im kirchlichen Recht, bei den Verfahren, bei der Unterstützung der Betroffenen. Es geht um Geld, um Stellen, vor allem aber um unsere Kultur.

 

Als Gemeindepfarrerin habe ich selbst erlebt, wie sehr sexuelle Gewalt noch immer ein Tabu ist. Aber Kinder und Jugendliche machen solche schlimmen Erfahrungen mitten unter uns. Und wer Macht hat, steht in der Gefahr, sie zu missbrauchen – auch in der Kirche. Um das zu begreifen und die notwendigen Schritte zu tun, brauchen wir die Stimme der Betroffenen. Es wird Zeit, sie überall in die Mitte zu stellen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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02.09.2021
Cornelia Coenen-Marx