Kinder auf der Flucht

Gedanken zur Woche
Kinder auf der Flucht
Gedanken zur Woche
12.02.2016 - 06:35
27.12.2015
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx

Im Londoner Museum of Childhood liegt eine Käthe-Kruse-Puppe. Fast 80 Jahre alt und ziemlich ramponiert. Sie gehört Stephanie Shirley, einer englischen Dame, die selbst schon über 80 ist. Beide haben eine weite Reise hinter sich und vor kurzem erst wieder zusammen gefunden. Es begann im Sommer 1939, als Steve Shirley fünf war, am Bahnhof in Wien. Da setzten ihre Eltern sie mit ihrer Schwester Renate in den Zug – auf einen der Kindertransporte nach London. Ein kleines Mädchen, das nichts mehr zum Festhalten hat als die Schwester und die geliebte Puppe. Steve hieß damals noch Vera Buchthal. Knapp 1000 Kinder waren im Zug – und nur zwei Erwachsene. Als Vera und Renate endlich in London aussteigen, ist die Puppe weg. Im Durcheinander verloren gegangen.

 

Es ist ein kleines Wunder, dass sie heute im Museum liegt. Und ein großes, dass aus Vera Buchthal Stephanie Shirley wurde, eine britische Adlige und erfolgreiche Unternehmerin, Multimillionärin und bekannte Wohltäterin. Auf ihrem Weg hat sie harte Kämpfe durchstehen müssen. Angstschweiß und Tränen, nicht nur damals auf der Flucht vor den Nazis, sondern auch später als Frau auf dem Weg an die Spitze eines IT-Unternehmens und als Mutter mit einem autistischen Sohn. Zerrissen zwischen Management und Mutterliebe, manchmal dem Selbstmord nahe. Aber immer war da dieses Gefühl, dass die Rettung, die sie erlebt hat, einen Sinn haben musste. Shirley wollte etwas aus ihrem Leben machen und sie wollte Britin werden. Denn der Kontakt zur alten Heimat war abgerissen – auch der zu ihren eigenen Eltern, obwohl schließlich beide den Holocaust überlebten. Sie hatte eine wunderbare Gastfamilie gefunden, aber sie konnte lange nicht damit zurechtkommen, dass die eigenen Eltern sie weggeschickt hatten. Erst heute, gegen Ende ihres Lebens, sieht sie das anders. „Das Beste, was meine Mutter für mich tun konnte“, sagt sie, „war, mich loszulassen“.

 

Diese Woche stritt die Politik über den Familiennachzug für Flüchtlingskinder. Ich kann es bald nicht mehr hören, wie mühsam die Abstimmungen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik sind. Aber dass nun die Kinder im Mittelpunkt des Streits zwischen Parteien und Ministerien stehen, das hat mich so geärgert, dass ich genauer hinhörte. Die einen fürchten, dass die Kinder nur vorgeschickt würden, um die Erwachsenen nachzuholen. Die anderen verweisen darauf, wie verletzlich Kinder sind, wenn sie von ihren Familien getrennt werden.

 

Was stimmt, ist: Menschen sind keine Einzelgänger. Und gerade Kinder brauchen einen Schutzraum, ein Beziehungsnetz, eine gemeinsame Geschichte. Heimat eben. Und Familie. Das alles verlassen und sich neu verorten zu müssen, ist eine riesige Herausforderung. Erst recht für ein Kind. Denn ein Kind kann nicht verstehen, warum seine Eltern es gehen lassen. Auch wenn das manchmal das Beste ist, was sie tun können.

 

Es fällt mir schwer, dem politischen Gezerre zuzuhören. Schließlich geht es um Familie, die unter besonderem Schutz unseres Grundgesetzes steht. Um Kinderschutz und Kinderrechte. Endlich scheint nun klar: in der Frage des Familiennachzugs für Flüchtlingskinder mit subsidiärem Status kann es Einzelfallprüfungen geben. Ob das funktionieren kann, das weiß ich nicht. Aber dass uns allen die einzelnen Kinder vor Augen stehen, das finde ich richtig. Sie gehören in die Mitte – nicht als symbolischer Abschreckungsversuch von Flüchtenden, sondern in das Zentrum der nötigen Integrationsanstrengungen. So wie Jesus einmal ein Kind in die Mitte gestellt hat. „Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen“, sagt er, „ der nimmt mich auf“. Die englischen Gasteltern der jüdischen Kinder aus Deutschland und Österreich haben das getan – für Shirley und viele andere.

 

Wenn Sie mit mir darüber sprechen wollen, wie wir Flüchtlingskindern ein neues Zuhause geben können, dann erreichen Sie mich bis 8 Uhr unter: 030 – 325 321 344. Oder diskutieren Sie mit, auf Facebook unter ‚deutschlandradio.evangelisch‘.

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27.12.2015
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx