Sterben fordert die ganze Menschlichkeit

Si reucitaria? (Goya, 1810 – 1814)

Si reucitaria? (Goya, 1810 – 1814)

Sterben fordert die ganze Menschlichkeit
06.11.2015 - 06:35
18.06.2015
Pfarrerin Heidrun Dörken

Jeden Morgen, bevor ich das Haus betrete, in dem ich arbeite, schaue ich zu den großen Glastüren des Nachbar-Gebäudes. Brennt eine Kerze im Eingang? Dann weiß ich, dass in der letzten Nacht dort ein Mensch gestorben ist. Es ist ein evangelisches Hospiz. Bis zu zwölf Frauen und Männer werden dort unterstützt. Sie haben in der Regel eine nicht mehr heilbare Krankheit und eine sehr begrenzte Zeit zu leben. Ich sehe Besucher kommen und gehen. Eine Familie parkt den Kinderwagen, mit dem Baby auf dem Arm gehen sie hinein. Manchmal steht ein Krankenwagen vor der Tür, manchmal ein Leichenwagen.

 

Manche finden das befremdlich: Jeden Morgen wirst du an Tod und Sterben erinnert? Aber nach einigem Nachdenken finden es viele gut, im Vorbeigehen von der zutiefst menschlichen Erfahrung berührt zu werden: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Das zu verdrängen, macht ärmer. Deshalb bittet ein Beter der Bibel: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden[1].

 

Gesellschaft und Politik sind da klüger geworden die letzten Jahre, wenigstens ein Stück. Gestern wurde im Bundestag ein Gesetz mit großer Mehrheit verabschiedet, das die Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland verbessern wird. Palliativ meint ärztliche Kunst, pflegerisches Können, auch Seelsorge, Sterbenden so beizustehen, dass sie bis zum Ende würdig leben und in Frieden gehen können. Dafür gibt es nun mehr Geld, mehr Personal und Ehrenamtliche werden besser unterstützt.

 

Es ist ein Fortschritt, wenn bei vielen Schmerzen gelindert werden und Sterbende nicht allein sind, wenn auf ihre Bedürfnisse und Wünsche gehört wird. Aber noch ist diese gute Versorgung nicht überall, selbst in manchen Pflegeheimen nicht. Noch fehlen vor allem auf dem Land Fachkräfte und Vernetzung. Es geht aber nicht darum, immer mehr Hospize zu eröffnen. Sondern vor allem die ambulante Versorgung soll besser werden, so dass mehr Menschen zu Hause sterben können, wie es sich die meisten wünschen[2].

 

Heute wird im Bundestag noch mal abgestimmt zum Thema Lebensende. Es geht dann unter anderem um die Rolle der Ärzte beim Wunsch nach Selbsttötung bei schwerer Krankheit. Und um die Rolle von Vereinen und Personen, die darin ein Geschäftsmodell sehen. Ich hoffe, die Abgeordneten bedenken vor ihrer Gewissensentscheidung die Stimmen der Hospiz-Leute und der Palliativmediziner. Sie lehnen mit großer Mehrheit die assistierte Selbsttötung ab[3], weil sie täglich erfahren: Bis auf ganz wenige Einzelfälle haben die Menschen, die gut begleitet werden, nicht das Verlangen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Weil es trotz Krankheit erträglich geworden ist. Viele sagen sogar: Ich habe kostbare Zeit gewonnen, äußerliche und innerliche Dinge zu ordnen.

 

Trotzdem: Selbst mit allem guten Beistand ist Sterben hart. Niemand soll das kleinreden. Auch daran denke ich, wenn ich eine Kerze brennen sehe im Hospiz. Wie die Geburt ist Sterben kein Spaziergang. Und wie eine Geburt fordert es unsere ganze Menschlichkeit. Auch religiöse Menschen haben Angst vorm Sterben. Doch neben sie tritt, was sie über den Tod hinaus hoffen. Der Autor Carl Zuckmayer hat so davon gesprochen: „Was wird mit mir sein, wenn ich nicht mehr aufwache? Ich denke mir oft, dass ich vor der Geburt von meiner Mutter umgeben war, (..) ohne sie zu kennen. Dann brachte sie mich zur Welt, und ich kenne sie nun und lebe mit ihr. So, glaube ich, sind wir als Lebende von Gott umgeben, ohne ihn zu erkennen. Wenn wir sterben, werden wir ihn erfahren, so wie ein Kind seine Mutter, und mit ihm sein. Warum soll ich den Tod fürchten?“[4]

 

Zuckmayers Gottvertrauen wünsche ich mir am Ende meines Lebens – und Menschen, die mir beistehen. Sie können mit mir sprechen, was Sie sich für ihr Lebensende wünschen – bis 8.00 Uhr unter 030 und dann: 325 321 344. Oder reden Sie mit auf Facebook unter „deutschlandradio.evangelisch“.

 

[1] Psalm 90, 12

[4] Zitiert nach: O Welt, ich muss dich lassen: Lebensweisheiten in Todesanzeigen Gebundene Ausgabe, hrsg. Von Ernst G. Tange, 2013.

Weitere Infos

18.06.2015
Pfarrerin Heidrun Dörken