Warum die Erinnerung nicht ruht

Gedanken zur Woche

Sowjetisches Ehrenmal (Tiergarten)

Warum die Erinnerung nicht ruht
Heute vor 70 Jahren war der Zweite Weltkrieg zu Ende
08.05.2015 - 06:35
03.04.2015
Pfarrer Martin Vorländer

„Das muss doch endlich mal ruhen!“, sagt Dietmar. Der 75-Jährige steht in Berlin vor dem Haus, in dem er als Kind das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat. Das Haus steht noch und die Erinnerung ist auch noch da, wie die Soldaten der Roten Armee durch die Straße kamen. Er hat die Angst seiner Mutter vor den fremden Soldaten gespürt. „Schnell, in den Keller!“, hat sie gerufen und sich mit ihrem Sohn dort versteckt. Das hat Dietmar heute noch im Ohr und vor Augen. Trotzdem sagt er: „Was soll das Gedenken? Die Vergangenheit muss doch endlich mal ruhen.“

 

Drei Jugendliche picknicken auf dem Schuttberg in München. Wissen sie, dass sie auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs sitzen? Die drei zucken mit den Schultern: „Davon sieht man ja nichts mehr. Längst Gras drüber gewachsen.“ Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren – hat das irgendeine Bedeutung für sie? „Hm, eher nicht. Ist lange her.“

 

„Das muss doch endlich mal ruhen. Ist lange her.“ Wie kommt Vergangenheit zur Ruhe? Auf jeden Fall nicht, indem man sie ruhen lässt. Dann treibt sie erst recht ihr Unwesen. Dann vergiften die schlimmen Erinnerungen den Frieden, über den wir Deutsche uns freuen können. 40 Jahre lang gingen viele verquast mit dem 8. Mai um. Lieber gar nicht daran rühren – das war doch ein Tag für die Sieger. Bis 1985 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den befreienden Satz sagte: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

 

In der Bibel erleben die Menschen Befreiung, die schmerzhafte Erinnerungen und Schuld nicht verschweigen. Erinnerung ist der Schlüssel zu Erlösung. Erinnerung braucht Zeit, denn eine Tat wirkt lange nach, manchmal von Generation zu Generation. Die Bibel drückt das so aus: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden.“ (Jeremia 31,29; Ezechiel 18,2)

 

70 Jahre ist der Zweite Weltkrieg vorbei. Aber seine Folgen sind da. Jede zehnte Bombe auf deutsche Städte ist nicht explodiert. Zehntausende Sprengkörper liegen unentdeckt in der Erde. Immer wieder stoßen Bauarbeiter auf die Blindgänger. Es ist reines Glück, wenn die Bomben nicht hochgehen, sondern rechtzeitig geräumt werden. Experten schätzen, dass es noch 60 Jahre dauert, bis der Boden frei ist von den explosiven Altlasten des Kriegs. So lange wirkt Krieg nach.

 

Auch in den Köpfen. „Immer wenn es beim Gewitter kracht, zucke ich zusammen“, sagt Adelheid. „Dann sind sofort die Bilder wieder da, wie wir ausgebombt wurden, wie ich als Kind Frankfurt brennen gesehen habe.“ Das sitzt den Älteren bis heute in den Knochen. Und es gibt ganz Junge, denen es auch so geht. Yusuf und Maryam im Kindergarten, die mit ihren Eltern vor dem Bürgerkrieg aus Syrien geflohen sind. Bei jedem Knall zucken sie zusammen, während die anderen Kinder weiterspielen.

 

Am 8. Mai 1945 war das massenmörderische System der Nazis am Ende. 70 Jahre später gibt es neuen braunen Spuk. In München steht Beate Zschäpe im NSU-Prozess seit genau zwei Jahren und zwei Tagen vor Gericht. NSU – „nationalsozialistischer Untergrund“, so nannte sich das Mördertrio Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos mit seinen Unterstützern. Ein Sumpf, den viele Deutsche viel zu lange nicht sehen wollten. Über Jahre haben diese Neonazis aus rassistischen Motiven zehn Menschen ermordet. Wes Geistes Kind sie sind, zeigt ein grauenvolles Brettspiel. Das haben sie selbst erfunden und in der Neo-Nazi-Szene verkauft. Es funktioniert ähnlich wie Monopoly. Ziel ihres Spiels ist, deutsche Städte „judenfrei“ zu machen. Statt Bahnhöfen gibt es Konzentrationslager. In Anlehnung an Monopoly haben die drei das Spiel „Pogromly“ genannt. Da stockt mir der Atem. Solange es in Deutschland Leute gibt, die so menschenverachtend denken und mörderisch handeln, so lange darf die Erinnerung nicht ruhen.

 

Wann darf Vergangenheit ruhen? Sie können darüber mit mir bis 8.00 Uhr sprechen unter 030 für Berlin und dann 325 321 344. Ich wiederhole: 030 325 321 344. Oder diskutieren Sie mit auf Facebook unter „deutschlandradio.evangelisch“.

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03.04.2015
Pfarrer Martin Vorländer