Bruder Esel

Morgenandacht
Bruder Esel
03.11.2015 - 06:35
18.06.2015
Cornelia Coenen-Marx

Es gibt diese Tage, an denen man sich erst mal mühsam ins Leben kämpft. Mir geht es so, wenn ich mit Kopfschmerzen aufwache. Dann brauche ich eine Zeit, bis das offene Fenster, ein heißer Tee und eine warme Dusche, mir helfen, es mit dem Morgen aufzunehmen. Ein kleiner Gang kann manchmal Wunder wirken – tief durchatmen, wieder zu mir finden. Aber immer gelingt das nicht. Es gibt auch diese unerträglichen Schmerzen, gegen die kein Mittel ankommt.

 

„Für einen Augenblick gelingt es mir, die Schmerzen weit weg zu schicken – ins Universum. Aber das Universum ist zersprungen“, schrieb die französische Philosophin Simone Weil, auch sie von Migräne geplagt. „Die Schmerzen kommen wieder und sie sind stärker als vorher. Aber plötzlich merke ich: etwas in mir ist unverletzlich – wie das Universum.“ Starke Schmerzen können uns alles rauben – den Verstand, unser Selbstgefühl und das Vertrauen ins Leben. Sie können förmlich die Seele aus dem Körper springen lassen. (Menschen, die Folter erlebt haben, berichten, dass sie sich selbst nicht mehr kannten.) Aber es gibt auch eine andere Erfahrung: ein Aufgehoben sein trotz Schmerz. Als hätte unsere Seele noch einen anderen Ort, an dem sie unverletzlich ist, was auch geschieht. Menschen, die Nahtod-Erfahrungen gemacht haben, erzählen, dass sie von oben auf ihren Körper hinab sehen konnten – selbst während einer traumatischen Verletzung. Das beweist gar nichts; aber es weist womöglich auf etwas hin. Wir sind im Leib – und sind doch mehr als das. (Ist unser Körper das Gefängnis der Seele, wie die antiken Philosophen dachten? Oder ganz anders: ihr Tempel?) Wir pflegen unseren Körper und wir quälen ihn; wir kämpfen mit ihm, damit er leistet, was wir uns vorgenommen haben. Die Philosophin Ariadne von Schirach erzählt in ihrem jüngsten Buch, wie Menschen ihren Körper zurichten für den Markt – den Bewerbermarkt, den Heiratsmarkt. Von den Hungermädchen erzählt sie, die den Models nacheifern, von Stresskörpern und Fitnessleibern und den Best Agern, die das Älterwerden wie eine lästige Krankheit verleugnen . Es ist ja wahr, dass Alter und Gesundheit unsere Möglichkeiten bestimmen. Ob wir wollen oder nicht – wir präsentieren uns über unseren Körper, wir werden nach unserem Aussehen beurteilt – da liegt es nahe, ihm Zeit zu widmen, ihn stark zu machen und aufzuhübschen. Und wehe, wenn er nicht mitspielt. Und sei es nur, dass er uns mit Kopfschmerzen stoppt, obwohl wir die gerade gar nicht brauchen können, weil wir ohnehin schon mitten im Stress sind. Dass der Leib uns auch mit unseren Grenzen konfrontiert, das ertragen wir schwer.

 

 Viele kennen die alte Geschichte von Bileam[1], dem Propheten, der mit seinem Esel unterwegs ist, als das Tier plötzlich stehen bleibt. Bileam gibt ihm einen Klaps, er brüllt den Esel an, schließlich prügelt er ihn, aber der Esel steht – alle Hufe fest am Boden. Denn im Unterschied zu Bileam sieht er den Engel, der den Weg versperrt. Ein Warnsignal – die beiden sind auf Abwegen. Bileams Esel ist nicht einfach nur störrisch, er nimmt mehr wahr als der Prophet. Er schützt ihn vor einem großen Fehler. Franziskus von Assisi hat unseren Leib mit diesem Esel verglichen: klüger oft als unser Kopf mit all seinen Plänen. Bruder Esel nennt er ihn. Er erinnert uns daran, dass Leben mehr ist als funktionieren.

 

Unser Körper ist kein Objekt, das wir modellieren und optimieren. Er ist auch kein Gefängnis für unseren unbändigen Willen. Er ist ein zerbrechliches Gefäß, vergänglich wie alles Leben. Aber das macht uns nicht klein, das muss uns nicht entmutigen. Jeder kennt Menschen, denen man ihr Alter oder eine Behinderung nicht anmerkt, weil ihre Ausstrahlung alles überstrahlt, weil ihre Seele leuchtet. Menschen, die das Leben akzeptieren, wie es ist. Und den Bruder Esel achten, füttern und pflegen. „Tu Deinem Leib Gutes, damit Deine Seele Lust hat, darin zu wohnen“, sagt die Mystikerin Theresa von Avila. Sie verstand den Leib als Tempel der Seele – weil Gottes unvergänglicher Atem in ihm wohnt. Man kann das spüren morgens – am offenen Fenster, im Blick auf den Himmel, im Gebet. Und manchmal auch trotz Schmerzen.

 

[1] 4. Mose 22, 21 ff.

18.06.2015
Cornelia Coenen-Marx