Das Wesentliche ist unsichtbar

Morgenandacht

Hans A. Rosbach

Das Wesentliche ist unsichtbar
20.12.2021 - 06:35
15.09.2021
Melitta Müller-Hansen
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Das Wesentliche ist unsichtbar. Und doch gibt es in Kirchen einiges zu sehen. Zum Beispiel in der Stadtkirche in Schwabach.

 

Da ist der Dreikönigsaltar im rechten Seitenschiff. Das neugeborene Kind, geborgen auf dem Schoß der Mutter. Maria, eine wunderschöne junge Frau, umgeben von vielen Gestalten…: Joseph, Ochs und Esel und um sie herum die drei Weisen aus dem Morgenland. Die bringen ihre Geschenke, sie knien vor dem Kind… das ganze bekannte Szenario einer Weihnachtskrippe.

Im Hintergrund der Szene eine große Landschaft. Auch eine Stadt, es könnte das Schwabach des Mittelalters sein. Und in der Mitte dieser Landschaft kleine Vögel. Ein Stieglitz, ein Dompfaff, ein Grünfink, ein Schmetterling... Diese kleinen Details, diese Freiheiten, die sich der Künstler herausnimmt, sie berühren mich. Denn sie kommen nicht vor in den Weihnachtsgeschichten. Und sie erzählen mir etwas über mein Geboren- und Geborgensein in diesem Kosmos. Sie führen mir die Weihnachtsgeschichte als Teil dieser Welt vor Augen und sind doch mehr. Die kleinen Vögel, der Säugling auf dem Schoß der Mutter… dieses junge Leben braucht Menschen, eine freundliche Umwelt. Und eigentlich den ganzen Kosmos, damit es zur Entfaltung kommen kann. Verbundensein als spirituelle Kraft wird hier sichtbar gemacht.

Der große Hochaltar im Hauptschiff taucht diese Kraft in goldene Farbe. Alles in Gold, das legendäre Schwabacher Blattgold, das sogar auf der Freiheitsstatue in New York zu sehen ist. Auf der Fackel, die Lady Liberty in den Händen hält. Hier auf dem Altar sind die Gewänder aller Figuren vergoldet. Auch das der Maria. Das Jesuskind liegt nicht in ihrem Arm, es liegt ausgesetzt am Boden, es teilt das ungeschützte menschliche Dasein. Aber es liegt auf dem goldenen Saum ihres Gewandes.

Unter dem Blattgold, natürlich: Holz! Die Figuren sind aus Holz geschnitzt – aus dem vergänglichen Material, das wie kein anderes von der menschlichen Natur erzählt – wie wir wachsen und werden, langsam wie ein Baum in Jahren und Jahresringen. Und auch wie wir vergehen, verwittern... Aus Holz geschnitzt, aber auch in Gold gehüllt, dem kostbarsten Material dieser Erde. Und Gold ist die Farbe Gottes, der Ewigkeit. Diese zwei Naturen gehören zu jedem Menschen. Sichtbar und unsichtbar.

 

Die Schwabacher Stadtkirche setzt noch eins drauf. Das Thema Geburt und Tod, Endlichkeit und Ewigkeit variiert der Kirchenraum weiter. Das entdecke ich am Taufbecken. Denn genau in der Fluchtlinie am anderen Ende des linken Seitenschiffes leuchtet mir wieder etwas entgegen. Ein ganzer Raum, der von innen heraus strahlt. Ein Kolumbarium, ein Bestattungsraum für Urnen.  Mittendrin in einer Kirche. Das Kolumbarium ist mit Urnenkammern gefüllt, in denen Gemeindemitglieder sich bestatten lassen können. Auch wieder aus Holz sind diese Kammern an den Wänden, und ganz außergewöhnlich geformt. Es sind Waben, dicht an dicht, 110 Waben. Man steht hier wie im Inneren eines Honigwabengehäuses. Ein paar Namen sind schon eingraviert auf einzelnen Waben. Alle aber sind verschieden, keine Wabe gleicht der anderen. Einzigartig, wie jeder Mensch. Und das Ganze hinterleuchtet mit einem warmen goldenen Licht. Am Ende des Lebens nicht ins Dunkel des Nichts gehen, sondern ins Licht Gottes. Das erschließt sich mir hier unmittelbar. Warum aber Honigwaben? Ist das mehr als ein schöner künstlerischer Gedanke?

 

Eine Antwort habe ich bei Rainer Maria Rilke gefunden. Wir seien Bienen des Unsichtbaren, sagt er (1). Was wir erleben und erleiden, was wir erschaffen und tun in unserem Leben, ist wie die Arbeit einer Biene, die Nektar sammelt. Wir sammeln den Nektar des Sichtbaren, sagt er, und tragen ihn in die große goldene Wabe des Unsichtbaren. Nichts ist also umsonst, nicht umsonst sammelt die Biene Nektar. Am Ende wird er in der Wabe in Honig verwandelt.

Sichtbares und Unsichtbares - beides gehört unbedingt zusammen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

 

  1. Rainer Maria Rilke 1925 in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Withold Hulewicz.

 

15.09.2021
Melitta Müller-Hansen