Das “Wir“ gewinnt

Morgenandacht
Das “Wir“ gewinnt
06.08.2018 - 06:35
20.06.2018
Petra Schulze
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„Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ steht auf einer Postkarte. Gefällt mir nicht. Stimmt aber irgendwie, denke ich. „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“

 

Ja, dann komme ich nicht auf die Idee, falsche Erwartungen an andere zu stellen.

Sondern kümmere mich selbst um mein eigenes Wohlergehen. Und wenn die anderen das auch tun – dann könnte es doch einigermaßen gerecht und friedlich zugehen in der Welt. Oder?

 

Der Spruch stammt aus der Wirtschaftswelt. Und kommt aus einer anderen Zeit, als neben Eigennutz und wirtschaftlichem Erfolg des Einzelnen auch „Tugenden wie Mäßigung, Liebe, Gerechtigkeit, Mut, Hoffnung und Glaube“ (1) zählten. Wenn diese Tugenden aber wegbrechen, dann wird es schwierig. Denn tatsächlich: Wenn ich meinem „An-mich-selbst-denken“ freien Lauf lasse, kommt das alte Monster „Gier“ zum Vorschein. Die „Gier“ flüstert mir ein: Du wirst nicht satt. Du hast nicht genug. Du brauchst mehr. Warum bin ich so gestrickt?

 

„Konsum bereitet Lust“, berichtet die Wissenschaftsjournalistin Eva Tenzer. (2) Dabei wird das Belohnungszentrum im Vorderhirn („Nucleus accumbens“) aktiviert. Das schüttet Glückshormone aus. Vorratskammern sicherten schon von jeher das Überleben. Diese Erfahrung bleibt weiter in unserem genetischen Programm verankert. „Das menschliche Gehirn (…) liebt den Konsum, und es verschmäht Askese.“, meint Eva Tenzer. Da tickt mein Gehirn also ganz normal. Sich etwas schönes Neues zu kaufen, macht glücklich. Dabei weiß ich gleichzeitig: Wenn wir die Welt retten wollen für die, die nach uns kommen – dann müssen wir uns selbst klare Konsumschranken auferlegen und die Gier in Schach halten.

 

So betrachtet taugt der Spruch „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ überhaupt nicht für ein gutes Zusammenleben aller Menschen auf dieser Welt.

Er ist nicht nur anfällig für die Gier, sondern aus ihm spricht auch das Monster „Gleichgültigkeit“: „Bleib mir weg mit deinem Leid. Ich denke an mich und du denkst an dich, das muss reichen. Du musst für dich selbst sorgen. Es wird kein anderer für dich tun.“ Oder schlimmer noch: „Du fällst uns zur Last. Du, wohnungslose Frau. Du, psychisch kranker Mann. Du, Kind mit Handicap.“

 

Das Monster „Gleichgültigkeit“ sitzt auf einem hohen Ross – und wird dafür gefeiert. Fein ins System eingepasst! Doch dieses System weist am Ende weder das starke Monster „Gier“ in die Schranken, noch das Monster „Gleichgültigkeit“. Zunehmend mehr haben sich hierzulande von den alten Tugenden „Mäßigung, Liebe, Gerechtigkeit, Mut, Hoffnung und Glaube“ verabschiedet. Und sich auch von dem christlichen Leitgedanken entfernt: „Geben ist seliger als Nehmen“. (Apostelgeschichte 20,35) Und mit all dem auch von einem anderen zentralen christlichen Gedanken. Der lautet nach dem bekannten Slogan der Aktion Mensch: Das WIR gewinnt. Darüber hat der Apostel Paulus einmal in einem Brief an die christliche Gemeinde in Philippi geschrieben. „Nicht wahr, es ist euch wichtig, … euch gegenseitig mit Christi Liebe zu trösten, … einander tiefes Mitgefühl entgegenzubringen? …begegnet allen mit der gleichen Liebe und richtet euch ganz auf das gemeinsame Ziel aus. …. Jeder soll auch auf das Wohl der anderen bedacht sein, nicht nur auf das eigene Wohl.“ (Philipper 2,1-5 NGÜ)

 

Die ganze Gemeinde ist wie ein Körper, ist „ein Leib“. Wenn der kleine Zeh leidet, leidet auch der Kopf. Deshalb rät Paulus: Richtet euer Verhalten nach dem Ziel aus, das euch verbindet. Seid bedacht auf das Wohl der anderen. Helft gern, ohne einen eigenen Vorteil zu haben.
Was heißt das jetzt? Wenn einer wenig Geld hat, lade ich ihn selbstverständlich ein. Ich gehe mit dem psychisch kranken Familienvater spazieren oder frage die wohnungslose Frau vor dem Supermarkt danach, was sie heute am meisten braucht. Und wenn es möglich ist, organisiere ich ihr das.

 

Neuere wissenschaftliche Studien mit Kleinstkindern haben ergeben: Neben der „Gier“ sind ebenso die Bereitschaft zum Helfen, Teilen und Informieren im Menschen bereits von Anfang an angelegt. (3) Die menschliche Kultur baut darauf auf, dass wir zusammenarbeiten, gemeinsam Probleme und Aufgaben bewältigen und uns an einem gemeinsamen Ziel ausrichten. Das „Wir“ gewinnt. Wo einer an den anderen denkt, ist vieles möglich. Und: Wenn jeder an wen anders denkt, dann ist an alle gedacht!

 

 

 

(1) https://www.zeit.de/2013/34/oekonomie-adam-smith/komplettansicht. Zuletzt abgerufen am 23.07.2018.

 

(2) http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ich-will-ich-will-ich-will-das-konsumistische-manifest-a-668298-2.html Ich will! Ich will! Ich will! Das konsumistische Manifest von Tobias Becker. Dienstag, 22.12.2009, zuletzt abgerufen am 23.07.2018.

 

(3) Die Kunst zu leben. Abenteuer Philosophie Nr. 1 Ausgabe Januar – März 2018 Nr. 151, Das neue WIR Kooperation, statt Konkurrenz, Christine Schramm, S. 8-11.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

20.06.2018
Petra Schulze