Den Bruder nicht mehr lieben dürfen

Morgenandacht
Den Bruder nicht mehr lieben dürfen
18.10.2017 - 06:35
12.10.2017
Ulrike Greim

 

Er hatte länger nichts von seinem Bruder gehört. Sie wohnten zwar in der gleichen Stadt, aber es lebte halt jeder sein Leben. Er hat ihn immer eingeladen zu Frau und Kindern. Zu allen Festen. Der Bruder war allein. Er wollte aber auch niemandem zur Last fallen. Mal nahm er die Einladung an, mal nicht. So war er eben. Ein bisschen eigenbrötlerisch, der Thomas. Aber als der sich so lange nicht meldete, wurde er unruhig, der Bruder. Rief an, – Anrufbeantworter. Immer wieder. Dann ging er hin, klingelte, Thomas machte nicht auf. Nahm eine Leiter und stieg von hinten in die Wohnung ein. Durchs Küchenfenster. Er schlug es ein. Und fand seinen Bruder tot auf dem Fußboden. Noch keine 50.

 

Monate später noch erzählt er sichtlich erschüttert davon. Wie er natürlich alles versucht hat, aber dann einsehen musste, dass seine Hilfe zu spät kommt. Er hat die Beerdigung organisiert, die Wohnung entrümpelt und aufgelöst. Alles schlimm. Alles schmerzhaft.

Aber das Schlimmste ist, dem Bruder nicht mehr gezeigt zu haben, wie viel er ihm bedeutete. Nicht, dass man in dieser Familie viele Worte machte. Aber so etwas Wichtiges – dafür muss doch irgendwo Platz sein. Das ist schlimm, nun nicht mehr die Chance zu haben, ihn brüderlich in den Arm nehmen zu können. Ihm zu sagen: Ich bin froh, dass es dich gibt. Mein Leben wäre nicht rund ohne deines. Das ist schlimm. Wirklich. Er sitzt auf seinem schicken Sessel und ihm stehen die Tränen in den Augen.

Der Schmerz, nicht mehr Bruder sein zu können, ist ihm physisch abzuspüren. Es scheint, als wäre es einfacher, nie einen Bruder gehabt zu haben.

Viele Male muss er tief seufzen, bis er sich zurücklehnen kann.

Er hat gespürt: Die schlimmsten aller Verfehlungen sind nicht die Dinge, die wir falsch gemacht haben. Die größte Sünde ist die zurückgehaltene Liebe.

 

Manchmal kleben halt die Arme am Körper fest.

Sie können sich nicht öffnen.

Es wäre so schön, mit offenen Armen auf den Bruder zuzugehen.

Ihn zu drücken.

Etwas Liebes zu sagen.

Aber es geht nicht.

 

Dann komm Du, Gott. – hat er gelernt zu beten.

Mache meine festen Muskeln weich.

Wärme mich auf.

Dass ich lebendig werde.

Dass ich mich öffnen kann.

Lieben.

Jesus.

Bruder.

 

Wie groß kann ein Herz sein? Wird es den Schmerz tragen und die Liebe, die nun nicht mehr zum Zuge kommen kann? Oder festhängen an dieser Szene?

Sein Herz ist groß. Und es leben viele Menschen darinnen. Seine Familie, viele Freunde. Menschen, die er ins Herz geschlossen hat, wie einen eigenen Bruder und wie eine eigene Schwester.

„Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel ...“ ?

Ja, so fragt er und so sehnt er sich im Gebet.

 

Kinder können es. Sie tun es, wie Atmen. Sie lieben. Ganz klar. Die Mama, den Papa, den Teddy, den Kater, die Blumen, das Bild, das Kuschelkissen. Einfach alles, was nicht komisch ist. Sie lieben, weil ihr Herz so groß ist. Und so unverletzt.

Da weint ein anderes Kind? Es hat nichts, womit es spielen kann? Es bekommt von unserem Kind den großen Plüsch-Bären geschenkt. Die Mama geht dazwischen: Aber Schatz, bist du sicher? Ja. Sicher.

 

So können Kinder sein. Das Herz ist konsequent offen.

Aber mit den ersten schlechten Erfahrungen kommt der Rückzug. So schnell lassen wir dann keinen mehr hinein in unser Herz. Und die Arme kleben am Körper fest…

Nein, weinende Kinder müssen dann nicht mehr irritieren. Da sollen sich andere drum kümmern. Nur als eines mal tot an einen europäischen Strand gespült wird, dann fühlen wir doch noch mal kurz was. Aber sonst? Berichte aus den Lagern hinter dem europäischen Stacheldraht? Gehen uns nichts an, scheint es.

 

Die Bibel redet anders:

„Dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“ (1.Joh 4,21)

 

Der Bruder ist der, den Gott mir nahe zur Seite gestellt hat. Mal bin ich mit ihm verwandt, mal werde ich es. Durch einen Augenblick, der uns verbindet. Durch den einen Vater, der uns hier gewollt hat. Das ist die gute Nachricht: Viele Brüder leben. Die einen fröhlich, die anderen im Elend.

Brüder tot aufzufinden, ist und bleibt unendlich schmerzlich.

Also lieben wir, wen Gott uns an die Seite gestellt hat, solange es uns vergönnt ist.

12.10.2017
Ulrike Greim