Der Bedarf guter Erzählungen

Morgenandacht
Der Bedarf guter Erzählungen
09.03.2019 - 06:35
03.01.2019
Ulrike Greim
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Da sitzt er nun in der Grube, Josef der Träumer. Seine Brüder triumphieren. Dem haben sie es aber gezeigt. Der Liebling des Vaters – er sitzt entblößt und verlassen in der Grube und wartet auf sein Schicksal. Tod oder Sklaverei, darum ringen sie noch. Die vergleichsweise Vernünftigeren setzen sich durch: Er wird als Sklave nach Ägypten verkauft. Seine Kleider zerreißen sie, tränken sie mit dem Blut einer Ziege und bringen sie dem Vater. ‚Sind dies die Kleider deines Sohnes?’ fragen sie scheinheilig. Der Vater Jakob erkennt die Kleider und muss annehmen, sein liebster Sohn sei von wilden Tieren zerrissen worden. Seine Brüder halten dicht. Der Vater fällt in tiefe Trauer.

 

Dass er eines Tages seinen totgeglaubten Sohn wieder in die Arme nehmen darf, weiß er hier noch nicht. Nur wer die Geschichte liest, erfährt es. Weiß in diesem Moment um den fürchterlichen Verrat. Die Geschichte von Jakob und Josef steht nicht für sich in der Bibel. Und auch die Geschichte, die hier im Eigentlichen erzählt wird, nämlich die des Gottesvolkes, dessen Stammvater Jakob ist, nicht. Jakob gleich Israel. Eine Geschichte von Völkern, von einem Zwölf-Völker-Bund, der auseinanderfällt, sich wild spaltet, sich wieder findet. Diese Geschichte hat kleine und mittlere Bögen und einen großen. Für sich genommen, ist der Verrat an Jakob schrecklich. Im mittleren Bogen aber ausgleichende Gerechtigkeit und im Großen geht es um etwas viel Weitreichenderes.

 

Jakob selbst tut sich in seiner Jugend ja als schwerer Betrüger hervor. Er betrügt seinen Bruder um das Erstgeburtsrecht und seinen blinden Vater, indem er sich als der Erstgeborene ausgibt und sich seinen Segen erschleicht. Die Autoren des Genesisbuches der Bibel verwenden das Motiv des Betruges doppelt. Der Betrüger wird betrogen. Ausgleichende Gerechtigkeit? Erzählt wird es ohne Wertung. Und wer wollte sich hinstellen und sagen, es geschehe ihm recht. Welcher Mensch wollte das einem Vater sagen, der gerade um seinen toten Sohn trauert. Wer wollte einem Volk sagen: Euer Abgrund geschieht euch recht, wenn ihr in ein tiefes Loch fallt, schreibt es euch selbst zu.

 

Die größere Linie, in die beide Verrate eingeflochten sind, ist die eines Gottes, der sein Volk lenkt, durch die menschlichen Abgründe hindurch. Am Ende dieser Linie muten die Autoren den Hörerinnen und Hörern einen steilen Satz zu: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ (Gen 50, 20)

 

Das sagt der verratene und verkaufte Sohn Josef zu seinen Brüdern, als sie vor ihm stehen – dem reichen und mächtigen Mann am ägyptischen Königshof, zu dem er geworden ist, dank seiner Gaben. Und seine Brüder: Das von Naturkatastrophen gebeutelte Volk, das nun Zuflucht sucht und Nahrung bei ihm, und das verhungern würde, wenn er nicht gnädig ist. Gut, er lässt sie erst zappeln, aber dann gibt er seinem Herzen einen Ruck und sagt: Nennen wir es eine Fügung. Statt Rache nur der Hinweis: Gott gedachte es gut zu machen.

 

Die Geschichte von Abgründen und Verrat und Flucht und göttlicher Fügung – sie soll erzählen, wie es zugehen kann unter Geschwistern und unter Völkern. Eine momentane Tragödie entwickelt sich zum langfristigen Segen.

 

Auf diese Weise deuten die Autoren die Geschichte ihres Volkes und das seiner Nachbarn. Sie ordnen ein, sie interpretieren. Sie geben der Hoffnung Nahrung. Jedes Volk und jeder Völkerbund braucht solche Erzählerinnen und Erzähler, die einordnen, interpretieren, schöne Bilder finden, so dass sich am Ende die tiefe menschliche Sehnsucht erfüllt: Dieses verrückte Leben ergibt einen Sinn. Für diesen braucht es Menschen, Männer und Frauen, die sich in die Hände eines liebenden Gottes werfen können, die ihm ihr Schicksal anvertrauen, die mit ihm träumen können, um dann den einstigen Peinigern gegenüberzustehen und auch sie ihrem Gott und ihrem Gewissen zu überlassen.

„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

03.01.2019
Ulrike Greim