Der Einsiedler

Morgenandacht
Der Einsiedler
04.03.2021 - 06:35
23.02.2021
Ulrike Greim
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Er findet das gar nicht so schlimm. Aber das sagt er nicht so laut. Klar, alle müssen sagen, wie schlimm es gerade ist. Wie unerträglich. Und ist es ja auch. Und wann es endlich vorbei ist. Aber er findet es – so ganz persönlich gesprochen – nicht sooo schlimm. Sein Gehalt läuft weiter. Home-Office – das kommt ihm sowieso gelegen. Das Großraumbüro ist für ihn eine Strafe. Seine Ohren sind zu sensibel. Er mag das permanente Gequatsche nicht, das immer zu laute Lachen der Assistentinnen, der ständige Fernseh-Nachrichten-Ton und irgendwas fiept immer. Und außerdem den Schweißgeruch der Kollegen und die Ausdünstungen des Polyester-Fußbodenbelags – er ist nach jedem Bürotag k.o...

Klar, im Büro hat er mehr Kontakt, bekommt mehr mit. Aber nach Wochen des Lockdowns hat er gemerkt, wie gut es ihm tut, abgeschieden zu sein. So viele Infos braucht er nicht. Im Ge-genteil, es ist so angenehm, mal nicht viel mitzukriegen. Seine Nerven haben sich beruhigt, seine Stimmung aufgehellt, sogar sein Atem ist tiefer geworden.

Ja, er vermisst es, mit den Mitarbeitern zu essen, mit der klugen Kollegin einen Kaffee zu trinken, ihr Lachen zu sehen, ihren Humor zu genießen. Und sei es nur für zwei Minuten. Ja, das fällt gerade alles weg. Und manchmal ist es wie ein taubes Gefühl irgendwo im Brustbe-reich, dass er die Abteilung nur auf dem Bildschirm sieht. Und manche aus dem Team eben gar nicht.

Es ist also beides: der Schmerz des Alleinseins und der Genuss der Ruhe. Er kann so viel besser zu Hause arbeiten. So unabgelenkt. Er arbeitet nun in seinem Rhythmus, er fängt später an, hört später auf. Er kann gut nach dem Abendessen arbeiten. Wenn bei den Nachbarn der Fern-seher angeht, sitzt er noch eine Runde am Schreibtisch. Auch tagsüber merkt er, wie sich ein Rhythmus eingeschliffen hat. Er genießt die Zeit nach dem Mittagessen, legt sich hin, das tut so gut. Und er geht oft spazieren. Auch gerne mit Freunden.

Nein, ganz ehrlich, er findet diesen Lockdown für sich persönlich nicht schlimm. Darf man nicht sagen, das weiß er. Aber so ist es nun einmal.

Was manche voll Grausen erinnern, war für ihn erleichternd: der Tag, an dem die Firma sagte, dass ab jetzt „Stufe 3“ gelte. Also Homeoffice. 
All das Hektische fiel weg. 
Isolation nannte es sein Kollege – aber für ihn klang es erstmalig nicht bedrohlich. So oft hatte er Krankheiten gebraucht, um sich aus dem Rennen nehmen zu können. Er weiß, dass ihm Ruhe guttut. Er braucht nicht viel Betrieb um sich. Die Einsiedelei – früher hatte er es belä-chelt. Jetzt konnte er es nur zu gut verstehen. Den Alltag nur dosiert an sich heranlassen. Zweimal am Tag Nachrichten hören – das reichte voll und ganz.

Einsiedler. Der Begriff lief ihm über den Weg, und er fand, dass das etwas Schönes ist. 

Der Einsiedler: ein Mensch, der zurückgezogen lebt. Wie ein Mönch in der Wüste. Auf sich gestellt, extrem reduziert lebend, betend. 
Wüstenzeit – Zeit für Herzenswandlung.

Spätabends, wenn er das Laptop zuklappt und durchatmet, dann setzt er sich in den Sessel. Er nimmt sich eines der Bücher, die er sich auf den Stapel gelegt hat. 
Zurzeit: Die Regeln des heiligen Benedikt.

„Höre, mein Sohn, auf die Weisungen des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat!“

Einzutauchen in diese andere Welt, das war so beruhigend. Es ist ihm, als höre er den Vater, den er nie richtig hatte. Hier spricht ein weiser alter Mann direkt in sein Ohr.

„Stehen wir endlich auf! Die Schrift rüttelt uns wach,“ schreibt Benedikt und ruft: „‘Die Stun-de ist da, vom Schlaf aufzustehen.‘ (Röm 13,11) Noch ist Zeit, noch sind wir in diesem Leib, noch lässt das Licht des Lebens uns Zeit, all das zu erfüllen. Jetzt müssen wir laufen und tun, was uns für die Ewigkeit nützt.“

Dass es Literatur gibt, für die die hektische Zeit keine Kategorie ist, das belebt sein Herz. Jetzt kann er es spüren: Da ruht in uns allen etwas, was gefunden werden will. Und es wartet ein Gott, der uns verbindet über alle Zeiten hinweg.

Nein, es ist nicht alles schlimm an dieser besonderen Zeit, in der viele Türen zugehen und manche eben auf.
 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

23.02.2021
Ulrike Greim