Die Hände sind nicht nur zum Waschen da

Morgenandacht
Die Hände sind nicht nur zum Waschen da
20.07.2020 - 06:35
25.06.2020
Angelika Obert
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„Bleiben Sie gesund!“ rufen sich die Nachbarn zu. „Bleiben Sie gesund!“ sagt die Kassiererin an der Kasse zum Abschied. Aber zu ihm sagt sie das nicht, wenn er sein Abendbier holt, mit gesenktem Kopf wie immer. Er hat sowas Abwesendes an sich, ist bloß irgendein armer Kerl, kein richtiger Kunde. Stimmt auch, er redet mit niemandem mehr. Nur noch mit sich selbst. Seit dem Rausschmiss aus der Firma meidet er die Menschen. Jetzt im Sommer ist es schon seltsam, wenn er die Nachbarn im Garten lachen hört, oft mit Gästen. Der Rauch vom Grill zieht zu ihm herüber. Nie haben sie ihn eingeladen. Aber ihm ist auch kaum ein Gruß über die Lippen gekommen. Was die wohl von ihm denken? Was für ein Wunder müsste passieren, damit er mal wieder aufguckt? Sein Gesicht im Spiegel ertragen kann? Sich traut, unter die Leute zu gehen?

 

Auf Abstand gehen, das haben wir in diesem Jahr ausgiebig gelernt, ist nötig für die Gesundheit. Es schützt vor Ansteckung. Auf Abstand gehen, das wussten wir vorher schon, geschieht sich in der Regel ganz von selbst – bei Leuten, denen man es schon von fern anmerkt, dass sie irgendwie gestrandet sind. Nicht reinpassen in die eigene halbwegs heile Welt. Und wer eine wunde Seele hat, sucht wohl ganz freiwillig den persönlichen Lockdown, damit nur niemand dran rührt.

 

Ich kenne das mit dem Abstand-Halten gut. Mir leuchten die geltenden Abstandsregeln auch ein. Zu denken gibt mir aber doch, dass es in den Heilungsgeschichten der Bibel meistens gerade darum geht, den Abstand zu überwinden. Sehr einfach wird davon zum Beispiel am Anfang des Markusevangeliums erzählt: Da ist so ein Mann, dem man es ansieht, dass er ein armer Kerl ist. Ein Aussätziger wird er genannt, hautkrank ist er. Nach den geltenden Regeln hat er sich fern zu halten von den Anderen und er tut‘s auch schon lange. Mitleidige Blicke, missbilligende Worte, das unwillkürliche Zurückzucken, wenn er sich nähert – das kann er nicht ertragen. Schon von fern macht er sich mit einer Rassel bemerkbar: Kommt mir bloß nicht zu nahe! Und so gehört es sich auch. Die geltende Regel ist ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Er weiß ja: Sonst blüht ihm der Zorn der andern: Was erlaubst du dir!

 

Nur einmal, als Jesus des Wegs kommt, da erlaubt er sich‘s doch. Er lässt das Rasseln, rennt auf ihn zu, kommt ihm viel zu nah, schaut ihm ins Gesicht: Du, wenn du willst, kannst mich zurückholen. Aber das darf Jesus doch gar nicht. Nach aller Vernunft und Ordnung müsste er zurückweichen: „Hey, wirst du wohl Abstand halten!“ Erzählt wird, dass auch Jesus der Zorn packt – aber nicht auf den Mann, sondern auf die Regel, die diesen Mann zum Aussätzigen macht. Jesus kümmert sich nicht drum, er streckt seine Hand aus und rührt den Mann an. Und sofort, heißt es, sofort war der kein Aussätziger mehr. Geheilt durch Nähe, nicht durch Abstand.

 

Ja, aber war Jesus denn nicht furchtbar leichtsinnig? Was, wenn er sich nun angesteckt hätte bei dem Mann und seine Jünger gleich mit? Gerade in Corona-Zeiten kann man sich wohl vorstellen, wie fragwürdig Jesus als Heiler auf seine vernünftigen Zeitgenossen gewirkt haben mag. Es gab immer welche, die sich sehr über ihn aufregten. Und hier in dieser Geschichte will er auch gar nicht, dass sich sein Regelverstoß herumspricht. „Halt den Mund“, gebietet er dem Geheilten: „Geh unter Menschen, lass dich blicken, aber mach kein Gewese um deine Heilung.“

 

Ich zweifele nicht an den geltenden Abstandsregeln. Aber ich will mich auch nicht zu sehr an den Gedanken gewöhnen, dass Abstand halten immer gesund ist. Will nicht vergessen, dass Heilung etwas damit zu hat, dass wir uns Nähe erlauben. Dass die Hände nicht nur zum Waschen da sind.

Und dass ja vielleicht auch der Mann, der nie aufblickt, auf jemanden wartet, dem er sich nähern darf.

25.06.2020
Angelika Obert