Die Schwanenknochen-Flöte: Musik steht am Anfang und am Ende

Morgenandacht
Die Schwanenknochen-Flöte: Musik steht am Anfang und am Ende
28.12.2019 - 06:35
18.07.2019
Heidrun Dörken
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Am Anfang war die Musik. Genauer: ein Flötenton. Dieser Gedanke liegt nahe, als ich es sehe: das älteste Musikinstrument der Welt. Eine zierliche Flöte, wunderschön, auch wenn sie nicht vollständig erhalten ist. Immerhin 12 Zentimeter mit drei Grifflöchern. Sie ist sogar verziert mit zarten Einkerbungen. Kunstvoll gefertigt vor rund 40.000 Jahren im heutigen Schwaben aus dem hohlen Knochen eines Singschwans. 40.000 Jahre! Die berühmten Höhlenmalereien von Lascaux sind dagegen richtig jung, nur 20.000 Jahre alt.

Die Schwanenknochenflöte ist also sensationell. Neben ihr wurden in den letzten Jahrzehnten sieben weitere Flöten in Teilen gefunden, aus Vogelknochen oder Elfenbein. Heute zu bestaunen in Museen in Stuttgart, Blaubeuren und Tübingen. Inzwischen hat man die Flöten nachgebaut und kann darauf spielen, sehr hohe Töne sind das. Welche Melodien unsere Vorfahren musiziert haben, wissen wir aber nicht. Die Flöten sind zusammen mit winzigen, unfassbar schönen Kunstwerken wie Mammuts, Pferden, Löwen, Menschenfiguren UNESCO-Welterbe. Sie heißen „Höhlen- und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“. Die Flöten sind ein kostbarer Schatz der Menschheit. Vielleicht wären wir ohne Musik gar nicht im vollen Sinn menschlich.

Denn am Anfang war der Ton. In mythischer Sprache, in Bildern, erzählt die Bibel von der Erschaffung der Menschen. Sie spricht davon, wie Gott den Menschen aus Erde vom Acker formt, wie ein Künstler. Doch Statuen menschlicher Künstler bleiben stumm. Gott aber haucht die Menschen mit Atem an, mit Geist. Sie erwachen zum Leben. Und sie tönen: vom Schrei der Geburt bis zum letzten Seufzer. Und sie machen Musik – offenbar von Anfang an. Die kleine Flöte aus den steinzeitlichen Anfängen unserer Kultur ist ein schöner Beweis.

Mit seinem oder ihrem Atem hat ein Flötenspieler oder eine Flötenspielerin den zarten Schwanenknochen einst zum Klingen gebracht. Ganz wie Gott den Menschen. Es ist, als seien wir von Gott als Melodie eines Liedes komponiert worden, und unsere Aufgabe besteht darin, diese Melodie zum Klingen zu bringen.

Mit unserem Leben und besonders mit der Musik. Sie ist menschlich und manchmal göttlich dazu. Wenn sie Gefühle ausdrückt über Worte hinaus: Schöne und harmonische, aber auch Zerrissensein und Trauer. Die Musik selbst ruft Gefühle hervor, zum Beispiel, wenn ich ein vertrautes Lied höre und mich gleich heimatlich fühle. Die Musik stellt aber auch dar, was einmal Heimat werden soll. So flüchtig und vergänglich sie ist, empfinden doch viele durch sie einen Moment Ewigkeit. Manche halten Johann Sebastian Bachs Musik für einen musikalischen Gottesbeweis. Oder fühlen sich bei Mozart, den Beatles oder ganz anderen Melodien wie im Himmel.

Meiner jüdischen Kollegin, der Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck, verdanke ich den Hinweis, dass in jüdischer Theologie die Musik nicht nur zu unseren Anfängen gehört. Auch am Ende steht ein Lied. Nach vielen Geschichten und Gesetzen steht am Ende der Tora, dem 5. Buch Mose, ein Lied – das Lied des Mose. Mose hat also nicht nur die zehn Gebote vermittelt, diese wichtigen Sätze, die ermöglichen, dass Menschen friedlich zusammenleben. Am Ende seines Lebens hat Mose laut biblischer Überlieferung gesungen. Mose gibt Gott mit einem Lied die Ehre. Ich verstehe das so: Vom Anfang bis zum Schluss gehört zur Menschlichkeit nicht nur Recht und Gesetz. Sondern ebenso das Schöne: das beschwingte Hören, Singen und Musizieren.

Die zierliche Schwanenknochenflöte ist 40.000 Jahre alt. Am Anfang war Musik. Am Ende vielleicht auch.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literatur:

Susanne C. Münzel, Nicholas J. Conrad: Flötenklang aus fernen Zeiten. Die frühesten Musikinstrumente, in: Eiszeit. Kunst und Kultur, hrsg. v. Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg u. d. Abt. Ältere Urgeschichte u. Quartärökologie der Universität Tübingen, Osterfildern 2009, S. 317 ff.

Auch hier gibt es Informationen: https://www.urmu.de/de/Forschung-Archaeologie/Eiszeitmusik

Informationen über das Weltkulturerbe: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/welterbe/welterbe-deutschland/hoehlen-und-eiszeitkunst-der-schwaebischen-alb

- Die Schöpfungsgeschichte steht im 1. Buch Mose 2, 7. – Rabbinerin Prof. Dr. Elisa Klapheck äußerte sich über 5. Mose 32 am 30. November 2019 in der Alten Oper Frankfurt/Main bei dem Konzert „Mein Lieblingsstück“. Mehr zu ihr und ihrer Frankfurter Gemeinde: http://www.elisa-klapheck.de/person und http://www.minjan-ffm.de/

18.07.2019
Heidrun Dörken