Freiheit und Gebrechlichkeit

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Ryan Hafey

Freiheit und Gebrechlichkeit
mit Evamaria Bohle
05.03.2022 - 06:35
28.01.2022
Evamaria Bohle
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Die Sendung zum Nachlesen: 

Unsere Freiheit ist ein kostbares Gut. Dass sie gebrechlich werden kann, beschäftigt mich noch nicht sehr lange. Aber um mich herum gibt es immer mehr Menschen, die sich unter der Last der Jahrzehnte sehr verändern. Auch geliebte Menschen. Es ist ihre Gebrechlichkeit, die schwer mit anzusehen ist. Wie sich die Körper verändern: zarter und krummer, unsicherer und schmerzempfindlicher werden und sich den Wünschen verweigern. Und auch, wenn ich meine Zukunft noch verwegen in Jahrzehnten kalkuliere, sehe ich: Das kann mir auch passieren. Dass mein Körper meiner Freiheit enge Grenzen setzt.

So viele Selbstverständlichkeiten eines Erwachsenenlebens sind über die Jahre zu verabschieden: die Glätte der Haut, die Farbe der Haare, die Stabilität der Zähne, die Geschmeidigkeit der Bewegungen und des Geistes. Alles hat seine Zeit, nichts hat Bestand. Die Buchstaben werden unschärfer, die Geräusche leiser. Altern braucht keine schweren Krankheiten. Es sickert in einen hinein.

Das Laufen wird mühsamer, das Bücken auch, der Weg zum Briefkasten und zurück dehnt sich endlos. Arztbesuche gleichen Expeditionen. Vielleicht wird der Gleichgewichtssinn sich überraschende Auszeiten nehmen.  Dann ist das Hinfallen zurück, der alte Kindheitskamerad. Nur: Auch er ist gealtert, und mit einem Pflaster auf dem Knie und „Heile, heile Segen“ wird nicht mehr alles wieder gut. Wie viel Tapferkeit das Altern erfordert.

Alles dauert länger, jedes Vorhaben kostet Kraft, die viel schneller verbraucht ist. Lange her, seufzt das Hirn und die zurückliegenden Jahrzehnte flimmern, schimmern ganz nah und verschwimmen doch in der Ferne. Der innere Archivar zieht die Augenbrauen hoch: „Bessere Zeiten, damals, als du jünger warst… Fünfzig oder fünf Jahre alt. War vieles einfacher“, behauptet er. Aber er irrt. Denn es ist doch nie einfach nur leicht.

Wie wird meine Gegenwart sein in, sagen wir kühn, 35 Jahren? Wenn ich meinen 90. Geburtstag feiere? Passionszeit, wahrscheinlich. Also: Leiden und Leidenschaft? Und voller Schönheit und Sehnsucht, bitte: Die Tulpen in der Vase, die leise Flamme der Kerze auf dem Tisch. Ab und an Besuch, vielleicht. Die Farbe des Himmels, das Rotkehlchen im Vogelhaus. Vielleicht noch ein Frühling.

Jedenfalls: Sollte dann irgendjemand mit besorgter Miene etwas sagen, das entfernt nach „Das geht so eigentlich nicht“ klingt, dann richte ich sie auf, meine Gebrechlichkeit, streiche die Falten hinter die Ohren und funkele am Telefon. Denn die Freiheit, in den eigenen vier Wänden gebrechlich zu sein, ist ein kostbares Gut. 

Es ist nicht leicht, die Gebrechlichkeit der Menschen zu ertragen, die wir lieben. Aber genau darum geht es wohl: Sie zu lieben, die Gebrechlichkeit, das Aufbegehren, das langsame Erlöschen der Kraft. Und nicht wegzuschauen, nicht wegzulaufen vor dem Schwanken und Seufzen, der Hinfälligkeit der greisen Freiheit. Vielmehr: Sie stützen, ihr ab und an eine Verschnaufpause verschaffen, und sie dann weiterschlurfen lassen, wohin sie will.

Darum geht es wohl: Zu lieben und den Schmerz auszuhalten, den die Machtlosigkeit auslöst. Darauf zu verzichten, besser zu wissen, was gut ist. Darauf zu verzichten, sich mit zu viel Hilfsbereitschaft abzulenken. Vielmehr, die Entscheidungen auch der gebrechlichen Freiheit zu achten und die Folgen mitzutragen. Wege zu ebnen vielleicht, aber sie ihren Weg gehen zu lassen, bis zum Schluss. Auch – G’tt (1) befohlen – unter dem Schutz einer größeren Liebe.

Freiheit und Gebrechlichkeit. Wir alle werden sterben. Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Kind und Kegel, Hinz und Kunz. Manche von uns werden vorher sehr alt und sehr schwach. Ich vielleicht auch. Wer weiß? Ob dann jemand da sein wird, der meine Entscheidungen achtet und geduldig hilft, meine gebrechliche Freiheit zu stützen? Das könnte so schön sein, fast ein Tanz vielleicht.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

(1) Ich schreibe das Wort G‘tt gern mit Apostroph: Die Leerstelle erinnert mich daran, dass diese vier Buchstaben auch für ein Geheimnis stehen, das ich nicht fassen kann, obwohl ich ein Wort dafür habe.

28.01.2022
Evamaria Bohle