Gänseliebe

Morgenandacht
Gänseliebe
22.12.2020 - 06:35
20.12.2020
Evamaria Bohle
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Die Weihnachtsgänse watscheln im Juni in mein Leben. Völlig überraschend. Ganter und Gans wie aus dem Bilderbuch. Gemessenen Schrittes verlassen sie den Anhänger, in dem sie angereist sind. Schneeweißes Gefieder, schlanke Hälse, Schnäbel und Füße leuchtend orange. Mit wachsamem Blick überprüfen sie die neue Umgebung, tauschen sich leise aus. Kein Geschnatter, eher ein hochfrequentes Zwitschern oder Zirpen. Das ordinärere „GaGaGa“ lerne ich erst später kennen.

In diesen Tagen denke ich oft an die beiden. Die Gans ist ein Lieblingsessen der Deutschen zur Weihnachtszeit. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 2870 Tonnen Gans geschlachtet. Das sind 2,87 Millionen Kilogramm. Wenn man bedenkt, dass eine Gans etwa 4 bis 6 Kilo wiegt, sind das sehr viele Vögel.

Die beiden Gänse, die ich in diesem Jahr näher kennenlernen durfte, brauchten Asyl. Meine Vermieter sind hilfsbereit und verfügen über eine große Wiese hinterm Haus. Ein Verschlag für die Nacht wird eingerichtet, ein Zaun aus Kunststoffgeflecht gesetzt. Wannen zum Baden gibt es auch. Gänsehausen ist bezugsbereit, und der Sommer 2020 wird mein erster Gänsesommer.

Ich lasse die beiden morgens früh aus dem Stall. Bald gibt es Gewohnheiten: Nach Zirpen und Geschnatter und dem obligatorischen Flügelschlagen, watscheln sie auf die Weide. Ich wechsele das Wasser, sie fressen Körner. Dann mit dem Gartenschlauch spielen und ausgiebige Gefiederpflege.  Sie wachsen mir rasch ans Herz, die zwei Hübschen, mit ihrem schnatternden Charme und der kopfschräglegenden Komik. Völlig undenkbar, dass ich sie einmal aufessen könnte. Ich mag sie anders. Das leise Klatschen der Schwimmfüße, wenn sie über den Hof schreiten, und das Prusten bei der morgendlichen Schnabelspülung. Mich rührt, wie sie aufeinander achten.

Kinder mögen sie leider nicht besonders, und auch bei als „fremd“ klassifizierten Erwachsenen können sie sehr robust zum Angriff übergehen. Es gibt Tränen und blaue Flecke und unverhohlene Vorfreude auf den Gänsebraten. Wenn ich dem Ganter die Hand hinstrecke, knabbert er mir nur vorsichtig am Finger. Er macht Unterschiede. Bis zu 100 Gesichter kann sich eine Gans merken, habe ich gelesen. Nie zuvor bin ich Geflügel so nah gewesen.

Gänsefotos werden das neue Genre in der Smartphonegalerie: Gänsepaar im Gänsemarsch im Gegenlicht, Wasser spritzender Ganter in der Wanne, Schnabelgroßaufnahmen, veilchenfarbenen Augen mit feinem orangefarbenen Rand. Schlummernde Gänse mit Kopf unter den Flügeln. Die beiden sind unzertrennlich. Und wo sie gehen und stehen, hinterlassen sie Gänseschiss. Als sie im Herbst anfangen, mit gerecktem Hals den Wildgänsen nachzuschauen, hoffe ich auf größeren Freiheitsdrang. Aber sie bleiben bei ihren Kurzstreckenflügen über die Wiese.

Am Schlachttag bin ich nicht daheim und ziemlich traurig. Ja, die Gänse sind Geschichte. Das Gehege ist abgebaut. Eine wartet in der Tiefkühlung, dass Weihnachten wird. Die andere ist schon verspeist. „Zart sei sie gewesen“, schwärmen die Nachbarn. Artgerecht gehaltene Tiere schmecken einfach besser. Wenn schon Weihnachtsgans, dann bitte eine glückliche Gans.

Ich bin auch eingeladen, aber diesmal lehne ich dankend ab. Das Umschalten gelingt mir nicht. Ich bin in Beziehung gegangen, habe die beiden als Tierpersönlichkeiten entdeckt, was einem Schlachttier in Deutschland ja nur selten geschieht.

Ich spüre deutlicher, wie viel ich verdränge, wenn ich Fleisch esse. Die Weihnachtsgans ist nur ein Braten, und die Tierpersönlichkeit habe ich kaum im Blick, wenn mir ein Braten schmeckt. Wenn ich sie aber in den Blick nehme, schmeckt es mir nicht mehr. 

Tiere sind „Leben, das leben will“ hat der Arzt, Theologe und Philosoph Albert Schweitzer einmal formuliert. Mir rückt dieser Gedanke in diesem Jahr sehr nahe. Vielleicht ist es für mich wirklich an der Zeit, ganz mit dem Fleisch essen aufzuhören.

20.12.2020
Evamaria Bohle