Gastfreundschaft

Morgenandacht
Gastfreundschaft
05.11.2015 - 06:35
18.06.2015
Cornelia Coenen-Marx

Vor einiger Zeit erzählte ein alter Freund meines Vaters, er sei meinen Eltern bis heute dankbar. Als er Ende der 50er Jahre als Missionar nach Indonesien ausreiste, hatten sie ihm und seiner Frau angeboten, die Kinder eine Weile bei uns aufzunehmen. Es kam dann nicht dazu – die Kinder konnten dort auf ein Internat. Ich hatte das damals gar nicht mitbekommen. Aber in meinem Elternhaus war es normal, dass Gäste aus dem Ausland, Pflegekinder oder auch pflegebedürftige Menschen eine Weile mit uns lebten – manchmal für ein ganzes Jahr oder länger. In dem alten Fachwerkhaus gab es zwei kleine Einliegerwohnungen und ein großes Fremdenzimmer. So hieß das in meiner Kindheit noch, bevor man von Gästezimmern sprach. In vielen Pfarrhäusern war es normal, dass Menschen mit ganz anderen Lebensgeschichten am Mittagstisch saßen. Gäste aus Krisengebieten in Afrika oder Lateinamerika, aber auch Menschen, die eine Familienkrise erlebten.

 

Gastfreundschaft ist eine alte kirchliche Tradition. Die reisenden Apostel wohnten selbstverständlich bei Mitgliedern der Gemeinde. Und später waren die Klöster Orte der Immunität, wo Durchreisende einen Teller Suppe und ein Bett bekamen und Verfolgte Schutz. Wo man die Kranken aufnahm und pflegte. Bis schließlich auch diakonische Einrichtungen ihre Häuser als Hospize verstanden, lange bevor dieser Name für christliche Gasthäuser und dann für die Sterbebegleitung genutzt wurde. „Dass wir einander Heimat geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause“ – darin sah Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer von Bethel, den Sinn aller Gastfreundschaft.

 

Inzwischen sind unsere Pfarrwohnungen oft zu klein. Und auch die diakonischen Dienste müssen alles planen und berechnen. Aber die alte Tradition der Gastfreundschaft ist trotzdem quicklebendig. Oft sind es Ehrenamtliche, die uns das in Erinnerung rufen. In den 70er Jahren machten Cecily Saunders und die Hospizbewegung deutlich, dass es nicht genügt, Sterbende so lange wie möglich medizinisch zu versorgen. Sie brauchen Begleitung, Gespräche und Menschen, die ihnen helfen, den Abschied zu gestalten. Fast gleichzeitig entstanden die ersten Stadtteilläden in den Wohnquartieren und Kirchengemeinden. Wer zuzog, wer einsam war oder einfach Hilfe brauchte, sollte eine offene Anlaufstelle finden. In unserem Gemeindeladen gab es eine Kleiderkammer, und ich weiß noch, mit wieviel Liebe die Ehrenamtlichen den Besuchern halfen, etwas Schönes für sich zu finden. Und auch jetzt sind es Ehrenamtliche, die Flüchtlinge mit allem Nötigen versorgen – mit Nahrung und Kleidung, mit Laptops und Handys – und sie schließlich einladen zum Willkommensfest.

 

Gastfreundschaft ist Teil unserer christlichen Tradition; aber sie geht weiter darüber hinaus. Schon Homers Odyssee erzählt von den Regeln der Xenia bei den alten Griechen. Ein guter Gastgeber bereitet seinem Gast ein Bad, er stellt ihm frische Kleider zur Verfügung und deckt ihm den Tisch – er nimmt den Fremden auf wie einen verlorenen Sohn oder Bruder. Die Gastfreundschaft zu verletzen, bedeutete Frevel gegenüber den Göttern. Schließlich könnten sich die Fremden sich ja selbst als Götter erweisen – incognito sozusagen. Fremde aufzunehmen war deshalb ein Akt der Frömmigkeit. Tischdecken und Betten machen ein Gebet; das Willkommensfest ein Gottesdienst. „Gastfrei zu sein, vergesst nicht, haben doch einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“[1], heißt es auch in der Bibel – im Brief an die Hebräerinnen und Hebräer. Da schwingt die Erzählung von Abraham und Sara mit, die im Hain von Mamre drei Fremde als Gäste empfangen. Sie waschen ihnen die Füße und decken ihnen den Tisch und begreifen erst viel später, dass in diesen Gästen Gott selbst gegenwärtig ist – das merken sie an einem ganz besonderen Gastgeschenk. Die drei verheißen ihnen den Sohn, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatten. Kaum zu glauben – fast schon eine Zumutung, dann aber doch ein Segen. Wer die Tür für Fremde aufmacht, kann mit Überraschungen rechnen. Ein neuer Blick auf das Leben, eine erstaunliche Wendung, vielleicht sogar die Nähe Gottes – incognito. Unter unseren Gästen.

 

[1] Hebr

18.06.2015
Cornelia Coenen-Marx