Geist der Erinnerung

Morgenandacht
Geist der Erinnerung
19.03.2018 - 06:35
01.03.2018
Pfarrer Jost Mazuch
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„Erinnern“ – was für ein schönes Wort! „Erinnerst du dich?“ Unsere Sprache weiß viel: Etwas Äußeres geschieht und setzt in unserem Innern etwas in Bewegung. Erinnerungen sind nicht nur eine Sache des Kopfes. Alle Sinne sind daran beteiligt. Erinnerungen werden ausgelöst durch Worte, Klänge, einen Duft, durch Berührungen. Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut, ein Vogel singt. Die Erde riecht plötzlich anders. Wie viele Erinnerungen werden da wach!

 

Erinnern funktioniert auch umgekehrt: In meinem Inneren geschieht etwas, und es wirkt sich nach außen aus. Plötzlich lächele ich anders, schaue die anderen freundlich an. Das geht von ganz allein: Erinnerungen wirken oft, ohne dass mir das überhaupt bewusst wird. Meine Reaktionen, meine Gefühle, vertraute und eingespielte Verhaltensweisen – das alles hat mit meinen Erinnerungen zu tun. Vom ersten Schrei nach der Geburt an, ja vermutlich schon vorher, habe ich sie gesammelt. Auch wenn ich solche ganz frühen Erinnerungen nicht bewusst abrufen und benennen kann, so prägen sie mich doch im Inneren. Und das geht weiter: was ich heute erlebe, das ist morgen in meiner Erinnerung; und immer so weiter das ganze Leben lang, bis ins Alter. Menschen bestehen zu einem großen Teil aus Erinnerung. Wer „Ich“ sagt, spricht eigentlich von der Summe der eigenen Erinnerungen.

 

Und das bleibt nicht beim einzelnen Menschen stehen. Erinnerungen kann man weitergeben, sogar über Generationen hinweg. Eltern erzählen ihren Kindern die wichtigen Dinge, die sie erlebt haben, und auch solche, die sie selbst von ihren Eltern oder Großeltern gehört haben. So gibt es einen gemeinsamen Erinnerungsfundus, den Menschen miteinander teilen, einander weitergeben. Religionen und Kulturen sind Schatzkammern alter kollektiver Erinnerungen. Die Bibel ist ein Buch voll mit Erinnerungen, und eine Kirche ist ein Haus, wo die Erinnerung wohnt. Hier werden jahrtausendealte Geschichten erzählt, hier wird immer wieder an Menschen gedacht, die lange vor uns gelebt haben.

 

Erinnern bleibt nicht in der Vergangenheit verhaftet. Hier werden Hoffnungen beschworen, deren Ursprung zwar weit zurück liegt, die aber heute wieder lebendig und wirksam werden. Das Erinnern verbindet über die Zeiten hinweg. Bei jeder Abendmahlsfeier folgen Christen der Aufforderung eines Menschen, der vor zweitausend Jahren sagte: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Äußere Zeichen, die etwas im Inneren anstoßen.

 

Wir Menschen sind geprägt von schönen und schlimmen Erinnerungen; und die können uns auch binden und einengen. Doch wir sind nicht an unsere Vergangenheit gefesselt. Denn Erinnern ist ein lebendiger Vorgang, der neue Wege öffnet. Was einer gesagt hat vor langer Zeit, kann heute eine Resonanz auslösen in meinem Inneren. Wenn ich eine Geschichte höre, beginnt etwas in mir zu schwingen und eine neue Möglichkeit tut sich auf.

 

Kurz vor seinem Tod verspricht Jesus seinen Freunden in seiner Abschiedsrede: Mein Vater wird euch den Heiligen Geist senden in meinem Namen; der wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Ich finde: das ist ein schöner Gedanke, dass der Gottesgeist, der Geist Jesu, mich erinnert. Ich stelle mir vor, dass er etwas wachruft in meinem Inneren, vielleicht hat es lange geschlafen; etwas Kostbares: Das Verlangen nach Wahrheit, die sich nicht korrumpieren lässt. Die Sehnsucht nach Liebe. Und eine Vision vom Frieden, der Menschen ruhig leben lässt.

 

Erinnert euch, sagt der Geist: Daran, wo ihr herkommt; wozu ihr da seid; wer ihr sein könnt. Das alles habt ihr doch schon einmal gewusst. Erinnert euch: dass ihr Schwestern und Brüder seid; dass ihr einen Vater habt, der euch viel anvertraut hat. Warum solltet ihr das alles bloß schlafen lassen?, fragt leise der Geist. Und Menschen erinnern sich und verändern sich.

01.03.2018
Pfarrer Jost Mazuch