Glauben und Wissen

Morgenandacht

Gemeinfrei via unsplash/ Pepe Reyes

Glauben und Wissen
22.12.2021 - 06:35
18.12.2021
Melitta Müller-Hansen
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Die Sendung zum Nachlesen: 

Glauben oder Wissen? Seit Beginn der Pandemie wundere ich mich darüber, dass es für viele Menschen auch im 21.Jahrhundert noch um diese Alternative geht.

 

Die einen sagten zu Beginn: Ich glaube nicht an das Virus. Das Virus aber war und ist keine Glaubensfrage. Hier geht es allein darum, die Realität anzuerkennen. Wissenschaftler weltweit bestätigen: das Virus ist da. Und sie erforschen, welchen Gesetzmäßigkeiten es folgt.

 

Andere sagen: „Ich brauche keinen Glauben, ich halte mich an die Virologen, die geben mir Sicherheit.“ Mit dieser Einstellung kommt man auch nicht weit genug. Denn letzte Sicherheit geben auch Virologen in einer Pandemie nicht. Letzte Sicherheit ist auch sonst nicht zu finden in dieser Welt. Denn: „Unser Wissen ist Stückwerk, unsere Erkenntnis ist Stückwerk“ (1. Kor 13). Diese biblische Wahrheit gilt bis heute. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung widersprechen sich manchmal, sie überholen sich vielleicht auch in kürzester Zeit. Sie leben von ‚trial and error‘, vom Irrtum und neuem Ausprobieren. Dann wieder braucht dieses Verfahren, brauchen Wissenschaftlerinnen meine Einsicht, meinen Glauben und mein Vertrauen in ihre Arbeitsweise und ihre Ergebnisse. Wenn die sich widersprechen, heißt es nur: wir sind alle auf dem Weg. Das Ende ist noch nicht erreicht.

 

Glauben oder Wissen – das ist keine ausschließliche Alternative. Der menschliche Geist ist in der Lage, Paradoxien zu ertragen. Und die menschliche Seele ist stark genug, Unsicherheit auszuhalten. Und hier hat die Spiritualität, hier hat Religion etwas zu bieten. Der Urgrund des Lebens ist nicht auf eine Formel zu bringen. Im Islam umkreisen 99 Namen das unaussprechbare Geheimnis Gott, der hundertste ist unbekannt. Und ein christlicher Hymnus aus dem 4. Jahrhundert sagt:

 

Mit welchem Namen soll ich dich anrufen,

der Du über allen Namen bist?

Du, der <Überall-alles>,

welchen Namen soll ich Dir geben?

Welcher Hymnus kann Dein Lob singen?

Welches Wort von Dir sprechen?

Kein Geist kann in Dein Geheimnis eindringen,

kein Verstand Dich verstehen.

Von Dir geht alles Sprechen aus,

aber Du bist über alle Sprache,

von Dir stammt alles Denken,

aber Du bist über alle Gedanken.

Du bist beides; alles und nichts,

nicht ein Teil, auch nicht das Ganze.

Alle Namen werden Dir gegeben

und doch kann keiner Dich fassen.

Wie soll ich Dich also nennen,

Du, der Du über alle Namen bist.

(Gregor von Nyssa)

 

Kein Name, aber ein DU. Und diesem DU kann ich vertrauen. Zu ihm beten. Und wenn ich bete, trainiere ich gewissermaßen meinen Geist, Widersprüchliches,

Unergründliches wahrzunehmen und anzuerkennen. Und meine Seele übt sich darin, Unsicheres auszuhalten. Zu glauben, zu vertrauen.

 

Mit diesem Du aber bin ich nicht allein auf der Welt. Und das ist das zweite, was mich beschäftigt seit Beginn der Pandemie. Die Fähigkeit des Menschen zur Solidarität. Nächstenliebe, sagen wir Christinnen und Christen. Man kann ja auch hier von zwei Seiten vom Pferd fallen. Die eine ist, allein die anderen, den Nächsten zu sehen. Als müsste ich mich übergehen, mich immer zurücksetzen und mich aufopferungsvoll nur um das Wohl anderer kümmern. Das ist Unsinn. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst. Kluge Balance ist da drin. Dich nicht übergehen. Aber - bei dir selbst auch nicht stehen bleiben. Das wäre die andere Seite, die aus dem Sattel stürzen lässt.

Die kluge Balance ist die Herausforderung von Nächstenliebe. Es geht dabei auch nicht um ein Gefühl, eine Emotion wie Sympathie. Liebe ist ein Akt des Denkens: Der andere ist wie ich. Hat eine Würde wie ich selbst. Unantastbar und schützenswert.  Das ist mehr, als ich fühlen kann. Ich trainiere meinen Geist, weiter zu denken, als nur an und für mich selbst.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

18.12.2021
Melitta Müller-Hansen