Jeden Morgen

Morgenandacht
Jeden Morgen
19.11.2015 - 06:35
18.06.2015
Pfarrerin Lucie Panzer

„Ich möchte morgens im Radio etwas hören, was mir beim Leben und beim Sterben hilft. Dazu kommt so selten was in den Morgenandachten“, hat mir eine Frau am Telefon gesagt. 85 Jahre alt sei sie. Ich weiß nicht genau, welches Radioprogramm sie hört. Ob sie vielleicht mal einen anderen Sender probieren will oder einen Andachtskalender lesen, hätte ich ihr vielleicht gesagt.

 

Aber die Frau hat längst weiter geredet: „Ich weiß, ich bin schon alt“, hat sie gesagt. „Aber die Jungen haben doch auch Angst vor dem Tod. Und vor dem Leben vielleicht mehr als ich. Denen würde das auch gut tun“.

 

Da hat sie mich überzeugt. Und ich habe sie gut verstanden.

 

Aber was sollte ich nun sagen zur Angst vor dem Leben und vor dem Sterben, morgens um halb sieben im Radio, wenn alle geschäftig sind und unterwegs? Was hilft mir selbst beim Leben und Sterben?

 

Mir ist eines meiner Lieblingslieder aus dem Gesangbuch eingefallen, von Johannes Zwick (1496-1542). Es ist ein Morgenlied und die erste Strophe geht so: „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad‘ und große Treu‘. Sie hat kein End‘ den langen Tag. Drauf jeder sich verlassen mag.“ (EG 440,1)

 

Das gibt mir Halt, wenn ich nicht weiß, wie es weitergehen soll. Dieses Lied macht mir Mut zum Leben. Denn es sagt mir mehr als „Heute ist ein neuer Tag“. Das stimmt auch und manchmal hilft das schon ein Stück weiter. Heute  ist ein neuer Tag – da gibt es neue Begegnungen und neue Chancen und vielleicht lösen sich die Probleme, die mir gestern  noch zu schaffen gemacht haben. Aber manchmal sind all die Sorgen ja auch einfach wieder da. Oder es kommen neue dazu. Dieses 500 Jahre alte Morgenlied sagt mehr, finde ich. Es sagt: Heute Morgen ist auch Gottes Gnade wieder neu. Gott fängt  neu mit mir an. Ich muss nicht mit mir herumtragen, was ich gestern  falsch gemacht habe. Er legt mich nicht darauf fest. Ich muss es auch nicht verstecken und nicht vertuschen. Ich kann heute neu anfangen. Aufrecht und selbstbewusst. In Ordnung bringen, was war. Ich kann es anders machen und hoffentlich besser. Und Gott wird mich nicht im Stich lassen. Seine Treue und Gnade ist jeden Morgen wieder.

 

Das hilft mir zum Leben. Und wenn ich sterben muss? Ich glaube, dass dann wieder ein Morgen kommt. In einem anderen Leben. Und auch dann wird Gottes Gnade wieder neu für mich da sein. Mir fällt Martin Luther ein, der hat in einer seiner berühmtesten Predigten gesagt: „Im Sterben muss jeder selbst die Hauptsachen, die einen Christen betreffen, gut kennen und gerüstet sein.“  Und im „Sermon vom Sterben“ hat Luther erklärt, wie er sich das vorstellt, nämlich: „Wie wenn ein Kind aus der kleinen Wohnung in seiner Mutter Leib mit Gefahr und Ängsten geboren wird in diesen weiten Himmel und Erde…ebenso geht der Mensch durch die enge Pforte des Todes aus diesem Leben. Und obwohl der Himmel und die Welt, darin wir jetzt leben, als groß und weit angesehen werden, so ist doch alles gegen den zukünftigen Himmel so viel enger und kleiner, wie es der Mutter Leib gegen diesen Himmel ist.“…

 

Luther bleibt auch in seinem Vertrauen ganz realistisch. Er weiß, dass Menschen Angst haben vor dem Tod – wohl eigentlich jeder. Deshalb schreibt er weiter: „Aber der enge Gang des Todes macht, dass uns dies Leben weit und jenes eng dünkt. So muss man sich auch im Sterben auf die Angst gefasst machen und wissen, dass danach ein großer Raum und Freude sein wird.“

 

Ich glaube, unter diesem zukünftigen, weiten Himmel Gottes wird sicher noch mal zur Sprache kommen, was gewesen ist. Auch das, was ich nicht so gern hören will. Vielleicht werde ich mich für manches schämen müssen. Aber Gott wird die Tränen abwischen. Meine. Und die von den Menschen, denen ich Unrecht getan habe. Auch an diesem neuen Morgen unter seinem neuen, weiten Himmel ist seine Gnade neu. Und seine Treue auch. Damit kann ich gut leben. Und hoffentlich getrost sterben.

 

Das alles habe ich der alten Dame dann geschrieben, die etwas hören möchte, was beim Leben und beim Sterben hilft. Und jetzt sage ich es noch einmal hier im Radio. Vielleicht hört sie es ja. Und vielleicht kennt sie das Lied von der Gnade Gottes, die alle morgen neu ist. Ich hoffe, das tröstet sie, so wie es mich tröstet.

18.06.2015
Pfarrerin Lucie Panzer