„Jesus in schlechter Gesellschaft“

Morgenandacht
„Jesus in schlechter Gesellschaft“
18.10.2016 - 06:35
18.10.2016
Pfarrer Jörg Machel

In einer Zeit, als mir Kirche und Christentum verstaubt und gestrig erschienen, drückte mir mein Freund, ein katholischer Priesterkandidat, ein Buch aus dem Westen in die Hand, das einen merkwürdigen Titel trug: „Jesus in schlechter Gesellschaft“. Das solle ich mal lesen, riet er mir. Und ich las und hörte gar nicht mehr auf zu lesen, so sehr faszinierte mich der Jesus, dem ich in diesem Buch von Adolf Holl begegnete.

 

Die Sprache klang nach Aufbruch, da ging es für mich dann gar nicht so sehr um Kirchenkritik, sondern um eine viel grundsätzlichere Haltung zur Welt. Dieser Jesus rüttelte auch an den Grundfesten meiner maroden DDR. Das war Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Die Überschrift „Kirchenkritik“ wäre viel zu klein gewesen, für das, was ich da las. Dieser Jesus war ein wenig Hippie, ein wenig Aussteiger, ein wenig Revolutionär. Er war jedenfalls kein Kirchenmann, wie ich sie kannte.

 

Wenn ich das Buch heute zur Hand nehme, muss ich ein bisschen schmunzeln. Es atmet ganz den Geist der Sechziger Jahre, einige Passagen könnten von Ernst Bloch kopiert sein. Man merkt, dass die Jesusgeschichte sehr auf die damals besonders bewegenden Themen fokussiert wurde, und doch spüre ich noch heute, wie sehr mich dieser Jesus berührte und wie viel von dieser damaligen Begeisterung immer noch in mir steckt.
Schon die Überschriften zu den einzelnen Kapiteln hatten mich aufmerken lassen: Der Irrtum Jesu, die Kriminalität Jesu, Prophetenzorn gegen Priesterwürde, ich habe nie in einem Haus gewohnt, bei euch soll es nicht so sein.

 

Schon beim Lesen war mir klar, man kann die Jesusgeschichte sicher auch anders lesen, aber man kann sie eben auch so verstehen und das hat mich neugierig gemacht.

 

Bald bin ich dann auch auf den tschechischen Reformmarxisten Milan Machovec gestoßen und habe sein Buch „Jesus für Atheisten“ gelesen. Voller Erstaunen merkte ich, dass der Prager Frühling, dass die Auflehnung gegen die Diktatur aus christlichen Quellen schöpfte. Das hat mir Türen geöffnet.

 

Noch bevor ich mich selbst als Christ bezeichnet hätte, wurde ich zum Jesusjünger. Dieser Mann faszinierte mich. Er war so ganz anders als die Vorbilder, die mir normalerweise angepriesen wurden.

 

Ob Adolf Holl mit seiner Jesusbiografie in allen Einzelheiten zu trauen ist, daran zweifelte ich schon damals, das Buch atmete gar zu sehr den Geist der Zeit, aber dass es Anknüpfungspunkte für diese Sicht auf Jesu Leben gab, das war offensichtlich.

 

Jesus war ein Mann zwischen den Stühlen, seine Gottesbindung war stärker als alle religiösen, nationalen und familiären Bindungen. Jede Vorschrift, jedes Gesetz stand bei ihm unter dem Vorbehalt der Liebe. Wo Menschen leiden, gedemütigt und erniedrigt werden, steht Jesus an ihrer Seite, ergreift Partei für sie.

 

Seine Klugheit hat mich fasziniert. Wann er schwieg und wie er redete, das hat mich begeistert. Wenn ich mich vor dem Schuldirektor zu rechtfertigen hatte, weil ich nicht zur Jugendweihe und zum Militär gehen wollte, hatte ich den Nazarener im Sinn, der selber ständig hinterfragt und überführt werden sollte.

 

In der Bibel selbst konnte ich diese Frische, diese Kraft nur ansatzweise finden, mit dem Jesusbuch von Adolf Holl lasen sich die alten Texte nicht mehr so verstaubt, sie klangen plötzlich frech und aufrührerisch.

 

Viele Jahre später bei einem Wienbesuch habe ich an der Tür von Adolf Holl geklingelt, ich wollte den Mann kennenlernen, der so wichtig war für meinen Glaubensweg.

 

Ich war erstaunt, wie bescheiden und zurückhaltend er auftrat. Die Wildheit seiner Bücher, die Kühnheit seiner Thesen standen in Kontrast zu seinem Nachfragen und Abwägen im Gespräch. Und ich war daran erinnert, dass diese Spannung mir auch an seiner Jesusbeschreibung auffiel. Er war sanft und sensibel im Umgang mit den Schwachen, aber radikal und fordernd gegenüber den Eliten.

18.10.2016
Pfarrer Jörg Machel