Jetzt tröstet

Morgenandacht
Jetzt tröstet
23.12.2020 - 06:35
20.12.2020
Evamaria Bohle
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Grundsätzlich bemühe ich mich, ein aufgeschlossener Mensch zu sein. Aber es ist noch vor dem ersten Kaffee, als ich auf dem Weg in die Küche dem Verkündigungsengel begegne. Dem aus der Weihnachtsgeschichte. Im Flur posiert er vor meinem Garderobenspiegel, strahlt mich ungemein positiv an und sagt aufmunternd: „Freue dich! Und abermals sage ich: Freue dich!“

An ihm ist kein Vorbeikommen. Und ich ärgere mich. Nicht über Engel in meiner Wohnung. Nein, ich habe nichts gegen Engel. Sie sind ja nur eine weitere Facette von Diversität. Und viele von ihnen haben diese wirklich anregende Art, einen beiläufig auf neue Gedanken zu bringen. Engel sind cool. Aber dieser ist mir gerade entschieden zu aufdringlich.

Ich schlängele mich an ihm vorbei und ziehe mich in die Küche zurück. Tür zu! Mit seinem Imperativ komme ich nicht klar. „Du könntest natürlich auch einen Kuchen backen!“, höre ich noch. Wie bitte? - Mein Unterbewusstsein will nun auch etwas beitragen. Und dann schickt es mir von ganz tief unten ein sehr gestresstes Kind in den Kopf.

Ein Kind, dem im Bus immer schlecht wird. „Dauert nicht mehr lange“, sagen die Eltern. „Wir sind bald da! Freu dich schon mal.“ Aber dem Kind ist schlecht und „bald“ ist viel zu spät. Bald ist eine Ewigkeit. Bald tröstet nicht. Nie. „Jetzt“ tröstet.

Mir ist inzwischen auch schlecht. Ich sitze wie alle anderen im Pandemiebus 2020, und die Reise nimmt und nimmt kein Ende. Die Virologen machen ernste Gesichter. Der Winter wird hart, versprechen Angela, Jens und die anderen und verteilen FFP2-Masken. - Treffen sich eine Schauspielerin, ein Restaurantkritiker und ein Eventplaner, aber keiner lacht. Sie spielen „Mensch, ärgere dich nicht“. Rauswerfen ist Pflicht und lächeln geht nur mit den Augen. Das können längst nicht alle. Und der Bus rollt weiter.

Enkelkinder winken hinter Plexiglas und alle, alle waschen sich die Hände. Nur die Pflegekräfte suchen verzweifelt nach Handschuhen. Ihnen ist auch schlecht. Wir anderen zählen tapfer die Haushalte und nehmen uns selbst in den Arm. Natürlich mit Abstand. Wir bleiben zuhause. Der Pandemiebus fährt weiter, und niemand erreicht den Reiseveranstalter.

In den hinteren Reihen hocken sie wieder viel zu dicht aufeinander und malen irre Transparente: „Es gibt gar keinen Bus! Weitersagen.“ - „Sind wir bald da?“, fragt einer das Kind, und eine Pfarrerin summt: „Heile, heile Segen.“- „Bald ist wieder gut“, seufzen alle. Nur: Wann ist das, bald?

„Freut euch“, höre ich den Engel in meinem Flur. Er steht immer noch vor dem Spiegel und experimentiert mit dem Tonfall. Ich trinke noch einen Schluck Kaffee und lausche. Jetzt deklamiert er: „Siehe, ich verkündige euch große Freude.“  Und in meinem Pandemiebus schiebt versehentlich jemand das Weihnachtsoratorium in den CD-Spieler.

So viel Zeit verbringen wir mit Warten. Auf das Ende der Quarantäne, des Lockdowns, der Pandemie. Wir warten auf Besuch und dass die Tage wieder länger werden. Auf den Impfstoff, den Paketboten und das Wochenende. Irgendwo warten immer welche auf das Ende irgendeines Krieges oder auf einen Platz im Schlauchboot. Und wieder andere warten auf die ganz große Liebe. Und ich? Worauf warte ich?

„Fürchte dich nicht, sagt der Engel leise. „Das Warten hat ein Ende. Jetzt ist der Tag des Heils.“ Er steht in der Küchentür und Gottes Glanz umleuchtet uns hell und warm. Aber ich fürchte mich trotzdem. „Das geht auch vorbei“, sagt der Engel.  Dann ist er verschwunden. Der Glanz hält sich noch ein Weilchen in der Küche. Am Garderobenspiegel im Flur klebt ein Post-it: „Jetzt ist der Tag des Heils.“ ‚Jetzt‘ ist unterstrichen.  Ich sollte wirklich einen Kuchen backen. Jetzt.

20.12.2020
Evamaria Bohle