Jürgen

Morgenandacht

gemeinfrei via unsplash / Eugene

Jürgen
Morgenandacht von Ulrike Greim
02.02.2023 - 06:35
29.01.2023
Ulrike Greim
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Immer wieder hatte er versucht, seinen Frieden zu machen mit dieser Welt. Immer wieder hatte er sich gesagt, dass schon alles seinen Sinn habe, dass wir nur zu klein sind, alles zu erkennen, zu unwissend. Dass es die großen Zusammenhänge gebe, dass wir aus Gottes Plan nicht herausfallen können. Aber immer wieder ist er verzweifelt – an sich, an der Gesellschaft, an dem großen Ganzen. So einer wie er, der sich sein Leben lang aufreibt für das, was er als gut und gerecht erkannt hat, der hat es nicht leicht.

Jürgen hat sich von Jugend an für die Natur engagiert – schon aus Opposition zum Vater. Hat eine Umweltgruppe gegründet, sich mit den Behörden angelegt, auch wenn ihm klar war, dass seine Stasi-Akte dabei wächst und wächst. Die Stasi hatte dies auch durchblicken lassen. Süffisanz hier, Drohung da. Aber ihm war das gerade recht. Gerechtigkeit kostet. Kein echtes Engagement ohne Widerstand. Jürgen war einer, der daran gewachsen ist. Verseuchte Teiche, kontaminierte LPG-Böden – er hat sie öffentlich gemacht. Hat Bäume gepflanzt und in kirchliche Jugendgruppen aufgeklärt, wie man Wasser spart und Strom, und was das mit den Klimakipppunkten ist.

Und er hat seine Heimat erforscht. Darüber seine Frau gefunden. Auch ihr Herz schlägt für die Natur. Sie haben angefangen, Botanik zu studieren. Haben sich vernetzt, eigene Forschungen angestellt. Und sie haben gebetet. Das war die einzig logische Konsequenz aus allem. Den suchen, der die Welt erschaffen hat, komplex und wunderschön. Sie haben zauberhafte Feste gefeiert. Konnten sich am Kleinen freuen. An jedem duftenden Brot, an Knoblauchbutter und ungarischem Wein, immer wieder sehr am Tanz.

Die kleine Firma hat sie nach der Wende gut ernährt. Aber er wollte mehr. Die Zeit drängt, wir müssen mehr tun. Er hat es über die Partei versucht, die Kirche, den Verein. Hat sich digital vernetzt und Aktionen initiiert. Als sich sein Kollege einen dicken SUV kauft, rastet er aus. Ob er gar nichts verstanden hätte. Wozu sie das alles hier machen. Der hält ihn für übergeschnappt.

Jürgen macht weiter, spart Energie, trennt seinen Müll, löst die Papieretiketten von den Flaschen, Papier in den Papiermüll, Glas in den Container. Bei ihm wird weiter nur drei Minuten geduscht. Er brauchte dazu keinen Putin, keinen Habeck. Er hat schon immer darauf geachtet. Er hatte Hoffnungen, aber alle wurden zertrampelt. Es scheint so sinnlos.

Zig Jahre Aufklärungsarbeit – es ist als hätte er gegen die Wand gepredigt. Alle Fakten liegen auf dem Tisch. Aber alle konsumieren auf Teufel komm raus, als gäbe es kein Morgen. Der Bauch – der Gott. Sein eigenes Bemühen – wie sinnlos, angesichts der Herausforderungen. Kurz vor dem Ruhestand ist sein Herz gestolpert. Krankenhaus, Reha. Schwerbehinderung. Als er kurzzeitig in den Rollstuhl gesetzt wird, da fühlt er sich, als hätte man ihm die Beine amputiert.

Immer wieder hat er versucht, seinen Frieden zu machen mit dieser Welt. Immer wieder hat er sich gesagt, dass schon alles seinen Sinn habe, dass es die großen Zusammenhänge gibt, dass wir aus Gottes Plan nicht herausfallen können. Aber nun ist er verzweifelt. Kann nicht mehr, will auch nicht mehr. Er versteht die Welt nicht mehr. Der Himmel ist leer.

Nachts träumt er, dass er durch das blaue Orbit fliegt, wie ein Astronaut, der seine Raumkapsel verloren hat, schwerelos, tonlos. Er sieht die Planeten und die unendliche Schönheit. Wie lange kann man den Atem anhalten? Er fühlt etwas Warmes an der Seite. Er kann den Kopf nicht drehen, aber möchte gern. Ein Engel gibt ihm Wein und ein duftendes Brot. Dann ist er weg.

Jürgen wacht auf. Das Brot duftet intensiv. Der Wein ist süß auf dem Gaumen. Verrückt, dass er es schmecken kann – im Bett in der Klinik am frühen Morgen. Er lehnt sich zurück und isst und trinkt seinen Traum zu Ende. „Stärke dich, der Weg ist weit,“ hört er den Engel sagen. Dann war doch nicht alles umsonst? Dann wird es werden? Etwas wird werden. Es ist nicht zu Ende. Die Schwester kommt. „Heute hat er rosa Wangen, wie schön! Einen wunderbaren guten Morgen!“ Sagt sie und zieht die Gardinen auf.

Es gilt das gesprochene Wort.

29.01.2023
Ulrike Greim