Keine Zeit zum Sterben?

Morgenandacht

Gemeinfrei via pixabay/ Sabine Vanerp

Keine Zeit zum Sterben?
26.10.2021 - 06:35
15.09.2021
Cornelia Coenen-Marx
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Die Sendung zum Nachlesen: 

Manchmal geschieht es, dass gesellschaftliche Prozesse unmittelbar in persönliche Erfahrung umschlagen. So ging es mir in der Corona-Krise mit dem Thema „Altern“.  Mit 62 war ich aus dem alten Job ausgestiegen und seitdem war ich mit Vorträgen und Workshops unterwegs. Lange Zugreisen, unterschiedliche Menschen und Gruppen, inspirierende Tagungshäuser und neue Projekte - fünf Jahre lang standen die Türen offen. Dann kam der Corona-Shutdown. Ich hatte gelernt zu zoomen, die Arbeit neu sortiert, Kurzarbeit mit meiner Mitarbeiterin vereinbart– als sich mein Alter dazwischendrängte. Ich war inzwischen fast 67, wie lange würde ich noch arbeiten? Lohnte es sich überhaupt, mich neu zu organisieren? Oder war es  Zeit, mich ganz zurückzuziehen? Fragen, die sich viele gestellt haben - im Beruf und auch im Ehrenamt.

 

Wer älter als sechzig war, gehörte plötzlich zur Risikogruppe. Dabei ging es nicht nur um Arbeit und Ehrenamt. Großeltern, bis eben noch als Unterstützung gefragt, durften nicht mehr auf ihre Enkel aufpassen. Bring Corona nicht zu Oma. Viele Ältere, die allein leben –  das sind fast die Hälfte – fühlten sich plötzlich einsam. Und in den Pflegeeinrichtungen führte der Schutz zur Isolation.

 

Ich bin noch immer erschrocken, wie sich in dieser Krise die Altersbilder geändert haben. Plötzlich dominierte wieder ein fast vergessenes Bild: Das Alter als Zeit der Verletzlichkeit und Gebrechlichkeit. Die Alten als Risikofälle, Versorgungsfälle, auf die alle anderen Rücksicht nehmen müssen.

 

Inzwischen bin ich  beruflich wieder unterwegs, ich skype und zoome, aber  deutlicher als früher spüre ich: Meine Zeit ist begrenzt. Manchmal kommt mir der Begriff „Restlaufzeit“ in den Sinn. Tatsächlich verschiebt sich im Altern der Zeithorizont, die Frage wird drängender, wie wir die Jahre nutzen, die noch vor uns liegen. Corona hat diese Erfahrung verschärft. Ein Experiment aus einem Workshop fiel mir wieder ein. Nehmen Sie ein Zentimetermaß, schneiden Sie es oben bei 90 cm ab und unten bei Ihrem jetzigen Lebensalter. Was ich jetzt  noch in der Hand halte, ist ein kleines Stück. Was geht jetzt noch?

 

„Da geht noch was“, heißt ein Buch von Christine Westermann - sie hat es sich zu ihrem 65. Geburtstag geschenkt. Darin erzählt sie von ihrer letzten Fernsehreportage beim WDR. Gedreht wurde ein Klosteraufenthalt. Zurück im Büro sah sie, wie die Sendung beworben werden sollte. „Christine Westermann: „Wieviel Leben bleibt mir noch?“, stand da. Geht gar nicht! „Die Leute denken, die hat eine todbringende Krankheit“, dachte Westermann. Oder „die ist stark vergreist und verabschiedet sich mit dieser Doku.“ Und dann schrieb sie an die Redaktion: „Wie viel Leben bleibt mir noch? Das ist keine Sinnfrage. Das ist eine Unsinnsfrage. Es geht nicht um das Wieviel. Das Wohin ist entscheidend.“

Am Sekretär meiner Mutter klebte viele Jahre lang ein kleiner Zettel. Als sie starb, habe ich ihn in mein Tagebuch geklebt. Da stand in der kleinen Handschrift meines Großvaters ein Zitat von Sören Kierkegaard.

 

„Noch eine kleine Zeit, dann ist`s gewonnen, dann ist der ganze Streit in Nichts zerronnen, dann werd' ich laben mich an Lebensbächen und ewig, ewiglich mit Jesus sprechen“.

Ein bisschen kitschig für meine Ohren, aber die Bilder, die ich dabei im Kopf habe, gefallen mir. Eine Holzbank in den Bergen, eine bunte Wiese, daneben ein schäumender Gebirgsbach. Wir reden, hören einander zu. Endlich Zeit, sich wirklich kennen zu lernen - hier bin ich angekommen.

 

Das Wohin ist entscheidend, Christine Westermann hat Recht. Es hängt viel davon ab, ob ich mich auf eine solche Begegnung freue - oder ob da nur noch Abschied ist, Rückzug und Einsamkeit. „Eine kleine Zeit“ – das kann bedrohlich klingen oder erwartungsvoll. Je nachdem, ob ich eine Katastrophe erwarte oder ein Fest.

 

Der neue James Bond will es noch einmal krachen lassen - er wünscht sich einen letzten wunderbaren Abend, bevor die Welt untergeht. Zum Sterben hat er keine Zeit. Sören Kierkegaard hofft auf etwas Anderes, eine neue Welt, die wir noch nicht kennen. Er kann gelassen bleiben, weil er sich auf Gott verlässt. In dieser Haltung ‚geht noch was‘. Das Beste kommt noch. Ich bin gespannt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

15.09.2021
Cornelia Coenen-Marx